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Berlin: Verlockungen eines Krimi-Kiezes

Immer mehr Studenten und Kulturleute entdecken Wedding

Gustav schreibt: „Hey, ihr blöden Kulturfreaks, ich will im Wedding depressive Stadtstimmung haben.“ Gustav hat Angst. Angst davor, dass Wedding so schlimm enden könnte wie Prenzlauer Berg, der Stadtteil der zugewanderten Szene-Schickeria, die das Preisniveau verdirbt. Gustav fordert im Gästebuch der Kneipe „Holz und Farbe“: „Den Ball flachhalten“. Also sofort Schluss mit dem Wedding-Hype. Nicht mehr erzählen, dass es hier lebenswert ist und trotzdem billig. Dass es (ein paar) witzige Clubs gibt, angesagte Galerien und coole Leute, die was zu erzählen haben.

Leute wie Johannes Lange, der vor fünf Jahren in die Stadt kam, um Geografie zu studieren. Natürlich wollte er in einen der schicken Stadtteile wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain ziehen, doch die 80 Bewerbungen in WGs verliefen alle im Sande. Sein Bruder erzählte ihm von einer freien Wohnung in der Koloniestraße, Warmmiete 10 Mark pro Quadratmeter, und Johannes griff zu. Als er einzog, bekam er gleich den neuesten Flurtratsch mit. „Hey, unser Haus war wieder im Fernsehen. Wegen ’ner Messerstecherei.“ Lange ließ sich nicht schrecken und fühlte sich bald sehr wohl im Kiez. Eine kleine Firma hat er inzwischen gegründet, den „Ideen-Verlag“, mit einem Büro im „Gründerzentrum Christiania“ im ehemaligen Umspannwerk an der Osloer Straße. Dort haben sich Filmer, Designer und Fotografen mit öffentlicher Hilfe Werkstätten eingerichtet.

Auch das Quartiersmanagement und die Wohnungsgesellschaft Degewo versuchen, das Wohnklima zu verbessern. Seit vier Jahren läuft das Projekt „Kolonie-Wedding“. Dabei werden 20 leere Läden zu günstigen Mieten an Künstler abgegeben, die sich verpflichten, einmal im Monat auszustellen. Zu den „Kolonieabenden“ kommen rund 200 Besucher, sagt Alexandra Kast vom Quartiersmanagement, darunter viele aus Prenzlauer Berg.

In der Schererstraße, früher eine der verrufensten Adressen, hat sich Patrick Birkenhauer seinen Galerieladen eingerichtet, mitten im „Krimi-Kiez“. Die Wedding-Klischees stimmten, sagt Birkenhauer höllisch grinsend und erzählt von türkischen Jugendlichen, die seine Gäste anpöbeln, von Puffs und dubiosen Geschäftemachern. Aber gerade diese soziale Spannung macht die Schererstraße für junge Kunstmacher zum Geheimtipp. In der „Scherer 8“ wird „radikales Entertainment“ geboten, mit „erotischem Kabarett-Wrestling“ oder „brachialem Gitarrengewitter“. Zwei Häuser weiter, im „Café Schmidt“, treffen sich danach Zuschauer und Darsteller zur Nachbesprechung. Weil er zu wenig Bilder verkauft, geht Birkenhauser dort jeden Morgen putzen. Seinen Laden hat er für ein Jahr mietfrei. Die Frist läuft im nächsten Frühjahr ab. Die ganze Weddinger Kunstszene, so prophezeit er düster, könne auch wieder „wie eine Seifenblase zerplatzen.“

Alexandra Kast vom Quartiersmanagement macht sich indes keine Sorgen, dass Wedding irgendwann das Schicksal von Prenzlauer Berg erleidet. Von „Gentrification“, also die Verdrängung ärmerer Bewohner durch Besserverdiener, sei man noch weit entfernt. Zu viele Billigläden und -kneipen würden bürgerliche Kreise eher abschrecken. Ihr Kollege Reinhard Fischer hofft, dass mal eine Studentenkneipe oder ein Bioladen im Soldiner Kiez aufmacht. Dann gäbe es eine Chance, dass die Studenten, die man mit billigem Wohnraum in den Kiez gelockt hat, dort bleiben, auch wenn sie eigenes Geld verdienen. Das wäre ein erster Schritt hin zu einer gesunden sozialen Mischung.

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