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Berlin: Viel Beifall für den Treppenwitz

Auf 465 Stufen Berlins höchstes Wohnhaus hinauf: Tower-Run in der Gropiusstadt

In drei Minuten und 33 Sekunden lässt sich ein Pop-Song hören oder ein wabbliges Ei kochen. In der Zeit können begnadete Läufer auch 400 Meter um einen Parkplatz wetzten und anschließend 465 Stufen in Berlins höchstem Wohnhaus hochhetzen. Tomasz Klisz aus Kattowitz hat das gestern als schnellster von rund 100 Teilnehmern verschiedenster Klassen geschafft: Beim „Tower-Run“, der bei seiner Gründung vor drei Jahren noch von vielen Skeptikern, vor allem Mietern im Haus, als Treppenwitz bezeichnet wurde. Inzwischen aber findet das alljährliche Lauf-Gewusel ehrlichen Beifall.

Bis zum 30. Stock spurten sie hoch, viele Läufer stellt der TuS Neukölln, der mit der Neuköllner SPD und der Baugenossenschaft Ideal das Rennen managt. Der Ideal gehört das Haus, und natürlich jenes berühmte Treppenhaus, das sich in die Gilde der internationalen Tower-Run-Läufe eingereiht hat. Mit dem Lauf will die Gropiusstadt auch ein wenig Image-Pflege betreiben. Und so steht das Hochhaus in Läuferkreise zwar etliche Ansehens-Stufen unter dem Empire State Building in New York mit 1550 Stufen, dem CN–Tower in Toronto mit 1776 Stufen oder gar dem noch 300 Stufen höheren Menara-Tower in Kuala Lumpur. Thomas Klisz steht mit 21 Jahren aber auch noch am Anfang der Tower-Run-Karrierestufen, und die meisten Teilnehmer sind ohnehin froh, in relativ kurzer Zeit heil oben anzukommen. Jünger als 15 darf keiner auf Raten der Sportmediziner sein, 67-Jährige dagegen stürmten schon hinauf. Geschnauft geschwitzt wird kräftig. Wer oben auf die Damen und Herren Läufer wartet, hört schon drei Etagen tiefer das Keuchen. Die Angekommenen sehen nicht immer glücklich aus, manche lehnen eine Zeit lang mit glasigen Augen an der Wand und holen erst einmal tief Luft.

Der 60-jährige Konrad Beyer hat es in 4 Minuten 58 geschafft, und die ersten fünf Etagen gingen noch ganz gut, ab der 15. sei es beschwerlich gewesen, vor allem dass Überholen war kaum möglich, und ab Etage 20 habe er gekämpft. Als er das erzählt, ist er schon längst mit dem Aufzug wieder heruntergefahren. Es sei sehr hart gewesen, erzählt schweißgebadet Wolfgang Ellmer, der sich als „weltreisender Treppenspezialist“ bezeichnet. Der 39-Jährige ist aus Graz angereist, und das Empire State flitzte er natürlich auch schon hoch, in 14 Minuten. Aber im Gropius Building hat ihn irgendwo im letzten Drittel die Kraft verlassen, schlappe fünf Minuten brauchte er für Parkplatzlauf und die 30 Stock, eine Minute weniger hatte er sich vorgenommen. „Ich bin eben ein Spezialist längerer Strecken“, tröstet er sich.

Während vor dem Haus Jugendstadtrat Thomas Blesing den Lauf kommentiert, sind die Hausbewohner dringendst gebeten, nicht das Treppenhaus zu benutzen. Aber es gibt zum Glück einen Nachbaraufgang mit mehreren Aufzügen. Hans Fiebelkorn, der auf die Fahrt zu seiner Wohnung im 11. Stock wartet, kriegt wie die anderen vom eigentlichen Lauf nichts mit. Aber dass im Haus gerannt wird, gefällt ihm. Er erinnert sich, dass er einmal zu Fuß hoch musste und fast zehn Minuten brauchte, aber in letzter Zeit seien die Aufzüge stets in Ordnung. Anita Peters im 27. Stock musste noch nie zu Fuß hoch, aber sie wohnt auch erst zwei Jahre hier. Kurz bevor sie mit ihrem Mann einzog, hatten sich zwei Mal hintereinander Menschen vom Haus gestürzt, und davor sollen es insgesamt 31 gewesen sein. Aber an einem Tag wie gestern ist das in den oberen Etagen kein Gesprächsthema, höchstens das mies-kalte und dunstige Wetter, das die Sicht auf den nahen Flughafen Schönefeld und die Müggelberge unmöglich macht.

Walter Gropius hat das Hochhaus in den sechziger Jahren selbst entworfen. Von weitem gesehen wirkt es zeitlos modern, aus der Nähe betonkalt und äußerlich etwas vernachlässigt. Das schmale Treppenhaus mit den berühmten 465 Stufen kommt seinem fast schon internationalen Ruf bis Polen oder Österreich kaum nach. Es sieht aus, als führe es in einen vergessenen Keller. Aber die Mieter laufen hier normalerweise auch nicht lang, und die Läuferinnen und Läufer haben dafür sowieso keine Augen. Höchstens für die engen Kurven. Erst oben könnten die Erschöpften das Haus näher betrachten. Aber dazu sind sie viel zu sehr aus der Puste. Sie haben für die 400 Meter um den Parkplatz und die100 Meter Stufen-Luftlinie eine Zeit gebraucht, in der andere Leute sich ein Ei weich kochen.

Christian van Lessen

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