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Berlin: „Vollstrecker des selbst gefällten Urteils“

Der Staatsanwalt fordert im Mordfall Sürücü lebenslange Haft für die beiden älteren Brüder Todesschütze Ayhan soll demnach zu neun Jahren und acht Monaten Jugendstrafe verurteilt werden

Applaus, er spendet dem Staatsanwalt Applaus. Während des Plädoyers hat Ayhan Sürücü zuweilen spöttisch gelächelt, den Kopf geschüttelt und Kaugummi gekaut. Als der Ankläger endet, sitzt der 19-Jährige in seinem Kapuzenpullover auf der Anklagebank und klatscht höhnisch. „Das ist unmöglich!“, ruft Ayhan Sürücü dann noch durch den Saal. Gerade eben hat der Ankläger lebenslang für die beiden älteren Brüder gefordert und knapp zehn Jahre Jugendstrafe für Ayhan Sürücü. Wegen Mordes.

Mutlu Sürücü, der älteste Bruder, hat sich etwas besser im Griff. Er schimpft während des Plädoyers einmal laut, dann hält er sich mit beiden Händen die Ohren zu. „Es war eine Hinrichtung auf offener Straße“, sagt Staatsanwalt Matthias Weidling. Fast zwei Stunden spricht der Ankläger über Hatun Sürücü, ihr Leben und ihre Familie. Mit 15 war die Kreuzbergerin in der Türkei zwangsverheiratet worden, hatte aber später erst mit ihrem Ehemann, dann mit der eigenen Familie gebrochen. Die 23-Jährige legte das Kopftuch ab, begann eine Ausbildung als Elektroinstallateurin, zog ihren Sohn alleine auf und suchte sich auch ihre Freunde selbst aus. Weidling sagt, dass Hatun Sürücü mit ihrem Leben gegen die vermeintliche Familienehre der erzkonservativen Sürücüs verstoßen habe. Die drei Brüder hätten sich deshalb „als Vollstrecker eines selbst gefällten Urteils“ erhoben und ihre Schwester „eiskalt“ ermordet. „Derartige Straftaten zur Regelung von Familienangelegenheiten werden in unserem Rechtsstaat nicht toleriert“, sagt der Ankläger. Nicht allzu lange braucht Weidling, um seine Beweise aufzulisten. Denn er hat fast nur die Angaben von Melek, der damaligen Freundin von Ayhan. Ihr hatte sich der Todesschütze anvertraut, hatte Details preisgegeben und von einem Komplott der Brüder berichtet. Weidling glaubt Melek. Die 18-jährige Kronzeugin lebt heute unter fremdem Namen an geheimem Ort.

Aber da ist noch etwas, das den Sürücü-Prozess anders macht. Das Plädoyer der Nebenklage gerät zu einer flammenden Verteidigungsrede. Zwei „junge, voll integrierte Männer“ seien durch eine Medienkampagne aus ihrem Leben gerissen worden, klagt die Anwältin von Hatuns Schwester Arzu. „Jeder in der Familie ist davon überzeugt, dass Mutlu und Alpaslan unschuldig sind!“ Die junge Frau mit Kopftuch lauscht still, zuweilen tupft sie sich Tränen aus den Augen. Keinen Verhandlungstag hat die 22-Jährige verpasst und stets beteuert, dass ihr jüngster Bruder allein gehandelt habe. Dafür solle er auch büßen. Zehn Jahre, die Höchststrafe für Heranwachsende, fordert die Nebenklage für Ayhan Sürücü, Freispruch aber für Mutlu und Alpaslan Sürücü.

Weidling hegt noch immer den Verdacht, dass damals bei einem Familienrat die Tötung der Tochter beschlossen wurde – beweisen konnte er es nicht. Eines tröstet den Ankläger: Allein der Prozess habe eine Diskussion über Zwangsheirat und Integration ausgelöst. „Das erfüllt uns mit Genugtuung und Zuversicht – wie immer das Urteil auch ausgeht.“

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