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Berlin: Von echten und unechten Nichtwählern

Mehr Berliner als Hannover Einwohner hat, blieben der Stimmabgabe fern. Den Rekord hält Marzahn-Hellersdorf

Genau 546 723 Berliner, mehr als Hannover Einwohner hat, wählten am Sonntag eine „Partei“, die keine politischen Ambitionen hat, die sich im Nichtstun ergeht und sich im Abwarten übt. Ihr Einfluss wird immer größer, auch wenn sie nichts bewegen kann – auf den ersten Blick. Die richtigen Parteien fürchten sie zunehmend, weil sie ihnen wichtige Stimmen wegnimmt.

Es ist die Partei der Nichtwähler, die in Berlin bei einer Wahlbeteiligung von 77,6 Prozent (1998 noch über 81 Prozent) den großen Rest für sich gewinnt. Fast jeder fünfte Wahlberechtigte hat sie gewählt, ohne ins Wahllokal zu gehen. In Marzahn-Hellersdorf, dem Spitzenreiter, haben fast 30 Prozent der Wahlberechtigten die Stimm-Enthaltung geübt, während in Steglitz-Zehlendorf, dem wahlfreudigsten Bezirk der Stadt, nur wenig mehr als 15 Prozent der Wähler meinten, sie müssten nicht zur Wahl gehen.

Warum die Partei der Nichtwähler aber berlinweit so groß geworden ist, ob es nur die stets zitierte Poltik-Verdrossenehit ist, warum es so drastische bezirkliche Unterschiede gibt, muss noch genau ermittelt werden. Der Spruch, dass die da oben sowieso machen, was sie wollen, ist Legende.

„Den“ Nichtwähler gibt es nicht, stellt FU-Poltikprofessor Oskar Niedermayer im Internet-Angebot des Bundestags fest und erinnert daran, dass der Nichtwähler lange Zeit ein Stiefkind der wissenschaftlichen Forschung war. Aber als in den neunziger Jahren die Zahl der Nichtwähler auffiel, wurde flächendeckend untersucht. Die „Normalisierungsthese“ interpretierte den Rückgang der Wähler als Anpassung an den demokratischen Standard westlicher Demokratien, die „Krisenthese“ ging von politischer Unzufriedenheit aus. Weitere Studien ergaben, dass es vier Nichtwählertypen gibt: den unechten, den politikfernen, den protestierenden und den abwägenden Nichtwähler. Der „unechte“ hätte gewählt, wenn er sich nicht daran gehindert fühlte. Das kann an fehlenden Briefwahlunterlagen oder Wahlbenachrichtungen liegen, an einer Krankheit, einem Unfall oder einer dringenden Reise. Bis zu fünf Prozent der Nichtwähler könnten „unechte“ sein, stellt Niedermayer fest.

Die Mehrheit der echten Nichtwähler gehörten aber zu „politikfernen“ Menschen, die „in bestimmten sozialen Gruppen“ stärker vertreten seien, was der FU-Professor nicht genauer erläutert. Ein kleiner Teil der Nichwähler gehöre dem protestierenden Typ an, sei zwar am politischen Geschehen interessiert, aber politiker- und parteienverdrossen oder mit dem Funktionieren des bestehendenden demokratischen Systems generell unzufrieden. Seine Nichtwahl ist bewusste Protestkundgebung. Der abwägende Nichtwähler sei zwar nicht grundsätzlich gegen die Wahl, wäge sie aber gegen Freizeitinteressen ab. Er entscheide nach der Wichtigkeit der Wahl, deshalb sei die Beteiligung bei Bundesagswahlen immer noch höher als bei Landtagswahlen. „Von Europawahlen ganz zu schweigen.“. Da lag die Wahlbeteiligung in Berlin zuletzt bei 39,9 Prozent. Christian van Lessen

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