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Von Tag zu Tag: Gruß von Amelie

Bernd Matthies interpretiert die Berliner Zettel-Subkultur.

Soziale Netzwerke? Gehen auch ganz ohne Strom und lästige Anzeigen. Das Grundmodell stammt – behaupten wir jetzt mal einfach – aus Berlin, und es heißt „Zettel“. Es gibt ihn in allen Variationen, von schmierig abgerissen bis akkurat farbgedruckt und laminiert, er transportiert Nachrichten, Beschwerden, Aufschreie, Suchmeldungen. Das Basismodell „Verkauf“ mit den zehn Abreißschnipseln, auf denen zum Beispiel die Telefonnummer für Topline X von Hartan/Sportwagen 2009 NP 500 EUR incl. Softtragetasche (mit Rückenstütze) steht, war Jahrzehnte vor Ebay da, und es wird auch noch Jahrzehnte ...

Wo waren wir? Bei den Zetteln. Wir veröffentlichen eine Auswahl regelmäßig auf unserer Online-Seite, und die besten und schönsten sind zweifellos jene, in denen sich der Berliner, ganz typisch, als unerschütterlich herzensguter Nachbar zeigt. Und die Berlinerin! Hier unten ist ein Zettel von Amelie zu sehen, die beklaut worden ist; jemand hat Bargeld aus ihrem Fahrradkorb genommen. Wird sie zetern, wüten, den Fürsten der Hölle bemühen? Ach was: „Und wenn du es tatsächlich so dringend für dich selbst brauchst, dass es dir wert ist, deine moralischen Grundsätze über Bord zu werfen“, schreibt sie dem Dieb, „dann darfst du es auch für dich selbst behalten“.

Brillant, Amelie. Das ist extrem gutherzig, aber doch mit etwas kalkuliert moralinhaltiger Erpressung unterfüttert, und es sollte so auch den übelsten Langfinger ins Grübeln bringen. Denn so dringend kann eigentlich nichts sein, dass es solchem Zettel widerstände.

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