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Von Tag zu Tag: Späte Liebe

Christian van Lessen entdeckt seine Sympathie für den toten Kreisel

Hat da jemand geweint? Nein, die Augen blieben trocken, die Tränen im Knopfloch. Aber traurig blickten sie schon, die Bezirksleute, die sich gestern vom Steglitzer Kreisel als Rat-Hochhaus verabschiedet haben. Einem Koloss, der von Beginn an böse Schlagzeilen produzierte, Bauherren in die Pleite trieb, Politiker zum Rücktritt zwang. Und als die 29 Stockwerke endlich, vor nunmehr 27 Jahren, eine (öffentliche) Aufgabe fanden und sich mit dem Bezirksamt füllten, spuckte das Haus, wie undankbar, Asbest in die Luft, und das bis heute. Kein Wunder, dass viele Leute dem Haus zur Strafe den Abriss wünschten. Doch merkwürdig: Das über Jahrzehnte verachtete, als Asbestschleuder geschmähte Hochhaus ist mittlerweile auch denen ans Herz gewachsen, die hier um ihre Gesundheit fürchteten. Sie wollen zurück, wenn nur die Luft rein ist. Der Kreisel scheint auf dem Weg zum Sympathieträger. Am Grab sagt man eben nichts Schlechtes über die Toten.

Christian van Lessen

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