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Berlin: Von Tag zu Tag: Tödliche Meldungen II

Sollen Zeitungen auf Berichte über Selbstmorde verzichten? In Wien wollen Wissenschaftler herausgefunden haben, dass es einen Nachahmungseffekt gibt: Je weniger über Selbstmorde geschrieben wird, desto weniger Selbstmorde gibt es in der Folge.

Sollen Zeitungen auf Berichte über Selbstmorde verzichten? In Wien wollen Wissenschaftler herausgefunden haben, dass es einen Nachahmungseffekt gibt: Je weniger über Selbstmorde geschrieben wird, desto weniger Selbstmorde gibt es in der Folge. Eine schöne Vorstellung: gute Nachrichten, gute Welt. Wer wollte das verhindern?

Leider ist das Leben komplizierter. Selbstmorde sind keine Erfindung der Medien, und Zeitungen können nicht verhindern, dass Menschen sich töten. Dennoch hat sich eine Mehrheit unserer Leser, die sich an der Pro-und-Contra-Frage des vergangenen Sonntags beteiligt haben, gegen Berichte über Selbstmorde gewandt. Dahinter steckt auch der Wunsch, es möge niemand mehr auf so grausame Weise selber aus dem Leben scheiden, wie es eben immer wieder geschieht; und es möge die Verzweiflung verschwinden, die manchen dazu treibt. Wir teilen diesen Wunsch. Aber wir haben auch eine Aufgabe: über das zu berichten, was in der Welt geschieht.

Die Wiener Studie besagt, ein Rückgang der Selbstmorde sei zu beobachten, wenn gar nicht mehr oder sehr zurückhaltend berichtet wird. Mit anderen Worten: Es kommt vor allem darauf an, wie berichtet wird - sensationsheischend oder nüchtern. Dass Medien Menschen verleiten und auch verletzen können, steht außer Frage. Zurückhaltung an der richtigen Stelle ist deshalb Teil der Verantwortung, die Medien tragen. Aber zur Verantwortung gehört es auch, über relevante Dinge zu berichten. Nachrichten verschweigen oder verbrämen, das kennt man aus Ländern und Zeiten, von denen wir uns unterscheiden wollen. Und die Erfahrung zeigt: Totschweigen lässt sich auf Dauer nichts. Zur angemessenen Zurückhaltung fühlen wir uns jedoch verpflichtet.

Privates soll Privates bleiben, wenn es nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Wenn aber Tausende zu spät zur Arbeit kommen, weil die Bahn Verspätung hat, wollen sie zu Recht von ihrer Zeitung erfahren, warum das so ist. Allzu lange würden sie ohnehin nicht an eine "technische Störung" glauben - wenn sich wieder jemand vor den Zug geworfen hat.

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