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Am Tag nach der Bundestagswahl feiern Pegida-Anhänger auf dem Dresdner Neumarkt das starke Abschneiden der Rechtspopulisten bei der Wahl.

© dpa

Von wegen Einheit: Wir Ossis sind nicht alle Neonazis!

Die Wunden werden wieder aufgerissen in dieser ehemals geteilten Stadt. Die Hysterie über den Wahlerfolg der AfD in Ostdeutschland ist verletzend. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Antje Sirleschtov

Da ist sie ja wieder, die Mauer. In den Köpfen. Stein für Stein wird sie aufgetürmt. Am Montag nach der Wahl das Grausen: Warum wählen die Ossis nur immer diese braune Soße, kapieren die nach 27 Jahren immer noch nichts? Zwei Tage später erschaudert uns die „Wahrheit über den ostdeutschen Mann“, der ausweislich neuester Wahlstatistiken einen besonderen Hang zu Fremdenhass und Nazi-Sprech offenbaren lässt. Klar: Alles, was blond und jung ist, sucht sein Glück im reichen Westen. Logisch, dass die frustrierten Kerle in Horden Höcke & Co. hinterher rennen. Schön, dass endlich mal einer den Mann analysiert, den ostdeutschen zumindest.

Undankbarkeit? Lächerlich!

Und dann, zur Krönung dieser Woche auch noch Pfarrer Schorlemmer: „Undankbarkeit“ diagnostiziert der Mann bei den Ossis. Undankbarkeit? Nachdem es der Mehrheit der Demokraten seit Jahren nicht gelungen war, die Gaulands dieser Republik als rechte Populisten zu entlarven? Nachdem die Erleuchtung in den Parteizentralen, dass im Staate einiges gründlich schief laufen muss, erst am Sonntag um 18 Uhr gaaaanz langsam einzusetzen begann? Und nachdem es Leute gibt, die ihr freiheitliches Wahlrecht wahrgenommen haben? Lächerlich, Herr Schorlemmer!

Man hat als Wahlberechtigter eine Verantwortung

Bei all dem Ostbashing gestehe ich hier: Ich bin Ossi. Bin ich jetzt auch Neonazi? Zumindest Neonazi-Versteherin? Vielleicht nur ein bisschen, weil ich nicht lautstark in das allgemeine Schimpfen auf die einstimmen will, die (auch) mit mir zur Schule gegangen sind: Gebrochene, Enttäuschte, Wütende und solche, die einfach nicht die Kraft aufbrachten, sich in einer wiedervereinigten Gesellschaft einen Platz zu erkämpfen, der sie zufrieden macht – und jetzt AfD gewählt haben? Nein, ich will nicht verteidigen, dass jemand Politiker wählt, die auf Flüchtlinge schießen und das Völkische im Deutschen wieder hervorzerren wollen. Man hat als Wahlberechtigter schon auch noch eine Verantwortung: Hinsehen, ganz genau. Nachdenken. Dann Kreuz machen.

Aber die hysterische Aufregung über die hohen Stimmzahlen für die AfD in Ostdeutschland, die verletzt. Weil sie spaltet und wie auf Knopfdruck Ressentiments hervorspült: Ihr da drüben, ihr habt erst unsere sauer verdienten Milliarden zu schönen breiten Autobahnen verbaut, während die Straßen im Westen zerbröseln. Und jetzt wählt ihr den Hass in unser Parlament. Und andersherum: Erst habt ihr die Treuhand zu uns geschickt, damit sie alles kurz und klein hackt. Und nun beschwert ihr euch darüber, dass wir nicht wohlfeil auch noch eure West-Parteien wählen.

Das hat Kraft des Westens und des Ostens gekostet

Na, gemerkt? Die Wunden werden in diesen Tagen wieder aufgerissen, zwischen Ost und West. Unverständnis auf beiden Seiten, Abschottung. Dabei hätten wir doch alle Gründe dieser Welt, ein bisschen stolz zu sein– auch und gerade in dieser ehemals geteilten Stadt. Denn natürlich war es ein unglaublicher Kraftakt, die total ausgeblutete DDR-Wirtschaft nach 1990 wieder einigermaßen zum Leben zu erwecken. Das hat das Geld des Westens und die Kraft des Ostens gleichermaßen gekostet. Und: Es hat uns gezeigt, was in den Menschen dieses Landes alles steckt - im Osten und Westen gleichermaßen.

Handwerker haben heute in Charlottenburg die gleichen Probleme wie in Köpenick

Nun, 27 Jahre nach der Wiedervereinigung, ringen die Krankenschwestern, Alleinerziehenden, Rentner und Handwerker in Charlottenburg im Prinzip mit den gleichen Problemen wie die in Köpenick. Statt selbstgerecht kopfschüttelnd mit dem Finger auf die hohen Abstimmungsergebnisse des Ostens zu zeigen, täte es Not, sich genauso wach mit den Ursachen zu befassen, die dazu geführt haben, dass auch in manchen westlichen Regionen sehr viele Wähler die AfD wählten. Vielleicht hilft das ja, ein paar Steine aus der neuen Mauer rauszubrechen, bevor der Mörtel hart geworden ist. Denn immerhin: 80 Prozent des Ostens und 90 Prozent des Westens haben ihr Kreuzchen nicht bei der AfD gemacht.

Vergangene Woche übrigens hat mir ein Mann, Ende 50, erklärt, dass die AfD diesmal seine Wahl ist. Der Mann wohnt im Osten, er arbeitet im Osten. Aber er kommt aus Baden-Württemberg.

Alle Rants gibt es unter: tagesspiegel.de/rant

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