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Von wegen Ferien: Jugendliche entdecken das Ehrenamt

Das freiwillige Engagement jugendlicher Berliner hat stark zugenommen. Vom Ehrenamt profitieren sie auch selbst.

Zweimal zählt Oliver Scholz die Jugendlichen auf dem Bahnsteig in Oranienburg, dann nickt er zufrieden. „24, alle sind da. Los geht’s.“ Der junge Mann mit der Halbglatze und dem langen, gezwirbelten Ziegenbart schreitet voran, die jungen Menschen folgen ihm. Scholz ist Gruppenleiter bei der Schreberjugend. Ehrenamtlich. Gemeinsam mit zwei weiteren Betreuern führt er finnische, nordirische und Jugendliche aus Berlin in die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen.

Von wegen Ferien. „Die Jugendlichen sind seit knapp zwei Wochen in Deutschland und haben ein straffes Programm hinter sich, wenn sie am Donnerstag zurückfliegen“, sagt der 33-jährige Scholz aus Steglitz. Denn im Mittelpunkt der Jugendreise stehen keineswegs Urlaub und Entspannung, wie Oliver Gellert, 34, Vorsitzender der Schreberjugend Berlin, sagt. „Die Jugendlichen lernen bei internationalen Begegnungen andere Kulturen kennen und setzen sich mit der Geschichte Deutschlands auseinander.“ Man wolle auch einen respektvollen Umgang mit Natur und Umwelt vermitteln. Während ihrer Ferienzeit in Berlin wohnen die Touristen im Schreber-City-Hostel in Kreuzberg, Oliver Scholz ist da auch mit eingezogen.

Junge Leute wie Scholz sind in Berlin keine Seltenheit. Das Negativimage der sogenannten Jugend von heute trifft da keinesfalls zu. Allein 60 000 Kinder und Jugendliche engagieren sich bei den im Landesjugendring organisierten Jugendverbänden – und 300 000 Jugendliche profitieren davon, sagt Candida Splett, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit. „Wenn jemand bei uns Verantwortung übernimmt, geht das von der Vorstandsarbeit bis zur Vorbereitung eines Spieleabends“, sagt Landesjugendring-Geschäftsführer Tilmann Weickmann.

Zum Dachverband gehören viele selbstorganisierte Jugendorganisationen mit gesellschaftlichem Anspruch wie etwa die Falken und die „Deutschen PfadfinderInnen“. Der aktuelle Freiwilligensurvey des Berliner Senats hat ermittelt, dass die Altersgruppe der 14- bis 30-Jährigen beim Engagement einen enormen Sprung gemacht hat: Waren 1999 und 2004 noch 22 Prozent der Berliner dieser Altersgruppe freiwillig etwa in einer Organisation oder einem Verein aktiv, so sind es 2009 schon 29 Prozent (s. Grafik).

Einer der engagierten Berliner ist Jugendbetreuer Oliver Gellert. Der 33-Jährige setzt sich jetzt an die Spitze seiner Reisegruppe. Immer wieder dreht er sich um, es sollen ja alle zusammenbleiben. Neben ihm läuft die ehrenamtliche Gruppenleiterin Annika Gellert (29) aus Reinickendorf. Gellert hat 1998 die Jugendleiter-Karte „Juleica“ erworben – und ist seitdem jedes Jahr als Betreuerin für die Schreberjugend im Einsatz. Dabei sei sie als Kind nie bei Jugendfahrten dabei gewesen. „Das ist eine echte Abwechslung zur Uni“, sagt die Informatik-Studentin. Selbst wenn die 29-Jährige nächstes Jahr arbeitet, will sie sich weiter engagieren. „Ich würde meinen Jahresurlaub hergeben“, sagt sie, und man glaubt es ihr sofort. Schließlich mache es Spaß, immer neue Leute kennenzulernen. Ihr persönlicher Höhepunkt jeder Jugendreise: „Zu sehen, wie ich Jugendliche für Berlin begeistern kann.“ Zudem lerne sie Traditionen fremder Kulturen kennen, sagt Annika Gellert, so gewinne sie selbst an persönlichen Erfahrungen dazu. „Und ich werde offener und aufgeschlossener gegenüber anderen.“ Wenn sie sich mit den Jugendlichen unterhält, spricht sie Englisch. „Das hilft im Beruf später bestimmt weiter.“

Damit liegt sie beim Jugendengagement im Trend. Immer öfter geben beim Landesjugendring Engagierte an, die Tätigkeit auszuüben, weil sie damit erfahrungsgemäß bessere Chancen auf einen Arbeits- oder einen Studienplatz haben. „Allerdings kennen noch nicht genügend Arbeitnehmer diese Bescheinigungen“, sagt Landesjugendring-Sprecherin Splett. Gruppenpädagogik, Persönlichkeitsbildung, Kommunikation und Gesprächsführung – all dies lernen die angehenden Jugendleiter während der Ausbildung. Und das brauchen sie auch alles bei dem Sommercamp-Ausflug der Schreberjugend.

Eben haben Finnen, Nordiren und Deutsche noch gescherzt, die Aussprache ihrer Lieblingswörter „unglaublich“ und „wirklich“ geübt. Doch in der Gedenkstätte Sachsenhausen wird es still. „Ich habe überhaupt keine Vorstellung von so einem Lager“, sagt Kirsty McClay aus Belfast.

Als die 17-Jährige die Anlage betritt, ist sie erschüttert. „Sie ist riesig.“ In einer muffig riechenden Baracke sieht sie, wie jüdische Häftlinge auf engstem Raum lebten und schüttelt immer wieder den Kopf. Drei Stunden lang haben die Jugendlichen Zeit, die Gedenkstätte zu besichtigen, in der Häftlinge gefoltert, erschossen, erhängt und vergast wurden. Dann kommt die Gruppe wieder zusammen. Viele sind nachdenklich, einige diskutieren miteinander. Gruppenleiter vermitteln jetzt bei Gesprächen. Und sie tun nicht nur das. „Wir organisieren das Programm, die Stadtführung, besorgen Fahrkarten und übersetzen“, sagt Annika Gellert. Und achten auf landesspezifische Vorlieben. „Die Nordiren trinken gern schwarzen Tee. Naja, und Sauerkraut und Kartoffeln empfinden die Nordiren und Finnen nicht gerade als Delikatesse.“

Oliver Scholz bildet jetzt den Schluss der Gruppe. Er ist fünf bis sechs Wochen im Jahr als Jugendleiter unterwegs, in Berlin, in Zeltlagern, in Griechenland, in Finnland. Nach jedem Sommer bleibe für ihn dann erst mal eine große Leere zurück: „Ich versuche, in den Alltag zurückzufinden. Doch wenn ich erst wochenlang von Menschen umgeben bin, fehlt dann was.“ Manche Erlebnisse, manche Gesten als Dankeschön, sagt er, die werde er sein Leben nicht vergessen. Landesjugendring-Expertin Splett weiß, dass 83 Prozent der Menschen, die sich als Erwachsene engagieren, da schon in jungen Jahren hineingewachsen sind.

Die Stimmung der Truppe ist wieder entspannter. „Als Jugendleiter kann ich auch selbst wieder ein bisschen Kind sein“, sagt Oliver Scholz, „ wo darf man als Erwachsener schon so viel rumalbern wie hier mit den Jugendlichen?“

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