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Berlin: Von wegen Golf spielen

Beim Ärztetag in Berlin haben Deutschlands Mediziner rebelliert. Sie arbeiten 60 Stunden in der Woche, ertrinken in Papierkram – und dann bleiben weniger als 2500 Euro brutto. Ein Tag im Leben eines Hausarztes

Ein kurzer Blick, schon fertig: „Die Narbe sieht gut aus“, sagt Dieter Schwochow. Vor eineinhalb Wochen hatte der Arzt eine lange Wunde am Oberschenkel nähen müssen. Die Kontrolluntersuchung dauert nun gerade mal zwei Minuten. Das war’s, der Nächste bitte. Es ist Mittwoch, Schwochows Praxis ist voll. Der nächste Patient hat Bauchschmerzen, Schwindelanfälle, Gelenkbeschwerden – alles auf einmal. Der Arzt nimmt sich Zeit, 25 Minuten. Aber eigentlich, sagt er später, habe dieser Patient nicht wirklich körperliche Beschwerden. Er leide wohl eher seelisch und wollte einfach mal reden. Aber bei psychosomatischen Krankheiten kann Schwochow nicht helfen. Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin – und lange reden, das kann er sich kaum noch leisten. Schwochow ist einer von immer mehr deutschen Ärzten, die unzufrieden sind mit ihren Arbeitsbedingungen. Mit den schrumpfenden Budgets der Krankenkassen, mit der Zeit fressenden Bürokratie und der Politikerschelte auf geldgierige Ärzte. Denn das Klischee des gut verdienenden, Golf spielenden Arztes stimmt schon lange nicht mehr für die meisten deutschen Mediziner.

Am Samstag ist in Berlin der Ärztetag zu Ende gegangen, und der Alltag des Arztes – des Klinikarztes wie des niedergelassenen – war eins der wichtigsten Themen. Das Resultat war eine Liste von Forderungen und der Beschluss, sich die Arbeitsbedingungen genauer vorzunehmen. Also tun wir das. Wir schreiben ihn auf, einen Tag in Dieter Schwochows Leben.

Dieter Schwochow ist 55 Jahre alt, er hat ein rundes, freundliches Gesicht und einen grau durchwirkten Schnurrbart. Seine Praxis liegt in einer Einfamilienhaussiedlung in Hellersdorf, und in so einem Einfamilienhaus hat Schwochow auch seine Behandlungsräume eingerichtet. Der Flur ist zum Wartezimmer umgebaut. Der Tresen für die Anmeldung könnte eine Durchreiche zur Küche sein, und der kleine Behandlungsraum hat die Ausmaße eines Kinderzimmers. Das ist gewollt, sagt der Arzt. „Wenn ich mal aufhöre, kann ich die Praxis als Wohnung vermieten.“

Eigentlich hoffen niedergelassene Ärzte ja darauf, ihre Praxen eines Tages an einen Kollegen verkaufen zu können, als zusätzliche Altersvorsorge. Aber Schwochow hat da so seine Zweifel, denn wenn er seinen Kittel an den Nagel hängt, tun das viele mit ihm. Mehr als die Hälfte der 116 000 niedergelassenen Ärzte in Deutschland ist über 50. Und der Nachwuchs fehlt. Vor zehn Jahren war jeder vierte Niedergelassene unter 35 Jahre alt. Heute ist es gerade mal jeder sechste. Immer weniger junge Menschen wollen Arzt werden , und vor allem wollen sie kein niedergelassener, also freiberuflicher Mediziner mit eigener Praxis werden. Dabei mangelt es nicht an Patienten. Im Gegenteil: Je älter die Menschen werden, desto wahrscheinlicher brauchen sie auch medizinische Hilfe. Aber das ökonomische Risiko des Freiberuflers, vor allem aber der immer härtere Alltag eines Hausarztes schreckt ab.

Als kurz nach 14 Uhr der letzte Patient geht – eine Stunde nach Sprechstundenschluss –, hat Schwochow binnen sieben Stunden 51 Patienten behandelt. Rein rechnerisch sind das rund acht Minuten pro Patient – wenn Schwochow pausenlos behandelt. Ist das genug für eine gute Therapie? Oder ist das ein Fließbandjob?

Zum Glück brauchen viele Patienten nicht viel Zeit: Eine Krankschreibung wegen Grippe ist schnell ausgefüllt. Oder ein Rezept, weil das Heuschnupfenmittel aufgebraucht ist. Sie machen es möglich, dass Schwochow sich für andere Patienten mehr Zeit nehmen kann.

Mit dem Verdienst hat die Länge der Gespräche sowieso nichts zu tun. Ob nun der Zwei-Minutenblick auf das vernarbende Bein oder das 25-Minuten-Gespräch über psychosomatische Beschwerden: Schwochow bekommt für beide Fälle – ein Kranker, eine Diagnose – ein Honorar von 35 Punkten gutgeschrieben, Punkte, die eigentlich jeweils 5,11 Cents wert sein sollen. Aber: Das zur Verfügung stehende Geld ist begrenzt: Mehr als 34 Euro pro Patient und Quartal bezahlen die Krankenkassen Schwochow nicht. Das ist die so genannte Kopfpauschale. Wenn ein Patient mehr Kosten verursacht als seine Kopfpauschale hergibt, hat der Arzt die Möglichkeit, das mit der Pauschale eines anderen Patienten zu verrechnen, der weniger gebraucht hat. Das heißt, der Patient, der pro Quartal für eine kurze Sitzung kommt, ermöglicht einem anderen die aufwändigere, sprich teurere Behandlung. Trotzdem sagen die Ärzte, dass die Rechnung immer öfter nicht aufgeht. Viele haben schon vor Ende des Quartals ihr Kassenbudget ausgeschöpft. Auch Schwochow. „Ich habe jetzt nach fünf Wochen mein Budget für drei Monate erfüllt.“ Bis Ende Juni könnte er jetzt eigentlich dichtmachen. Macht er natürlich nicht.

Schwochow sagt, er könne immer noch ganz gut von seinem Job leben – im Gegensatz zu manch anderem in der Branche. Er macht 40 000 Euro Umsatz pro Quartal. Nach Abzug der Lohnkosten für seine beiden Arzthelferinnen, der Raten für das Haus, der Betriebskosten, von Renten- und Krankenversicherung sowie der Steuer blieben ihm im Monat 2500 Euro. „Ich klage ja nicht“, sagt Schwochow. Auch, wenn er dafür in der Woche mehr als 60 Stunden arbeiten muss. Denn nach den werktäglich sieben Sprechstunden ist er längst noch nicht fertig. Pro Woche kommen noch rund 30 Hausbesuche hinzu – honoriert mit „3,50 Euro pro Patient für den zusätzlichen Aufwand“, sagt Schwochow. „Ein Computerfachmann berechnet für die Anfahrt 99 Euro.“ Dann sind da noch die Besuche bei rund 80 Patienten in Pflegeheimen und noch einmal sechs Stunden pro Woche für den Bereitschaftsdienst.

Schwochow liegt mit seinem Einkommen im Mittelfeld. Laut Ärztekammer verdienen von den 7000 niedergelassenen Medizinern in Berlin 1460 weniger als 2550 Euro brutto im Monat. Auf der anderen Seite aber haben noch immer rund 2500 Kollegen mehr als 5100 Euro brutto zur Verfügung.

Wenn nur der immer weiter wachsende Papierkram nicht wäre. Es gibt nötige und es gibt unnötige Bürokratie, meint Schwochow. „Patientendaten, Rezepte, Krankschreibungen – das gehört natürlich dazu.“ Gerade sitzt er aber an einem „Ärztlichen Befundbericht“, den die Gesundheitsverwaltung über seine behinderten Patienten anfordert, um so die verbliebene Erwerbsfähigkeit und die staatlichen Zuwendungen zu bestimmen. Durchaus sinnvoll, findet Schwochow – „aber doch nicht jedes Jahr aufs Neue. Warum kann ich nicht einfach angeben, ob sich etwas am Behinderungsgrad geändert hat?“, fragt er. Nein, jedes Mal muss er einen komplett neuen Befund ausfüllen. Pro Tag flattern dem Arzt durchschnittlich fünf solcher Anfragen von Rentenversicherungsträgern, Versorgungsämtern oder Krankenkassen auf den Tisch. Mit dem Schreibkram verbringen manche Mediziner nach Angaben von Ärztefunktionären 40 Prozent ihrer Arbeitszeit. Schwochow braucht weniger: im Schnitt 15 Stunden pro Woche.

Auf dem Ärztetag haben Schwochows Kollegen vor allem auf diese Resolution beharrt: Der Gesetzgeber müsse auf überflüssige Detailregelungen verzichten. „Generell sollten Daten so sparsam wie möglich erhoben werden.“ Damit mehr Zeit für die Patienten bleibt. „Ich habe eigentlich Medizin studiert, um für jeden Kranken 25 Minuten zu haben“, sagt Schwochow. Dann drängt er, das Gespräch zu beenden. „Ich muss noch Hausbesuche machen.“

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