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VOR DEM EM-HALBFINALE Die Berliner erwarten ein großes Fußballfest: Vier Herzen mit zwei Favoriten

Der Fußball brachte die Eltern einst zusammen, heute entzweit er sie: Eine deutsch-türkische Familie fiebert dem Spiel entgegen

Vor dem Halbfinale heute Abend steht es bei der deutsch-türkischen Familie Wenger 2:2. Vater Werner und seine fünfzehnjährige Tochter Julia Selin sind für die deutsche Nationalmannschaft, Mutter Cigdem und die elfjährige Isabelle Dilara hoffen auf die Türkei.

Ein richtiger Riss geht wegen des Spiels zwar nicht durch die Familie, doch kleine Kabbeleien gibt es zwischen den beiden Anhängergruppen schon, und natürlich Unterschiede in der Bemalung: Selin hat die Farben der deutschen Flagge auf der Wange, eine richtige Fahne zum Wedeln muss sie sich heute noch kaufen. Auf Dilaras Stirn hat ihre Mutter mit Deckweiß Türkiye gepinselt, sie trägt ein rotes T-Shirt und rote Stulpen; Julia hat sich beides in der weißen Version angezogen.

Mutter Cigdem trägt den einzigen Meisterschafts-Fanartikel, den es im Hause Wenger gibt: Ein türkisches T-Shirt von der Weltmeisterschaft 2002. Wenn die türkische und die deutsche Nationalmannschaft am Abend im Basler St. Jakob-Park aufeinandertreffen, fiebern auch die rund 170 000 Türken mit, die in Berlin leben. „Die Türkei gewinnt“, ruft Dilara, und lässt sich auf das rote Sofa fallen. „Nein, Deutschland gewinnt“, sagt Schwester Selin. „Ich kenne die deutsche Mannschaft einfach viel besser, und ich glaube nicht, das die türkische Mannschaft dreimal hintereinander so viel Glück hat, dass sie in letzter Sekunde gewinnt“, erklärt sie. Bei den vergangenen Begegnungen, als die Türkei auf Tschechien und Kroatien getroffen war, hatte das Team der Türkei das Blatt buchstäblich im letzten Augenblick gewendet.

„Die Türken haben eine unglaubliche Moral“, erkennt auch Vater Werner die Leistung der Mannschaft an, „aber heute Abend werden sie nicht gewinnen“, sagt er sehr überzeugt.

„Man soll den Gegner nicht unterschätzen“, sagt seine Ehefrau Cigdem lächelnd und lässt sich in den Sessel sinken. „Denn schließlich haben die Türken ihren Willen gezeigt“, sagt sie. Und außerdem seien auch angebliche Favoriten wie Italien, Frankreich und Holland bereits ausgeschieden. Dass die türkische Mannschaft heute Abend nicht in der Top-Besetzung antreten kann, muss aber auch Mutter Cigdem zugeben – mehrere Mitglieder des 23-köpfigen Nationalteams sind verletzt, außerdem sind vier der besten Spieler für die Begegnung gesperrt, darunter Stammtorwart Volkan Demirel.

„Nur deshalb hätte Deutschland eventuell eine Chance“, sagt sie augenzwinkernd, und alle vier lachen. „Aber eines ist sicher“, sagt Werner Wenger, „auch wenn die türkische Mannschaft verliert, wird sie zu Hause mit Hurra empfangen.“ An den deutschen Zeitungen gefällt Mutter Cigdem dagegen nicht, dass diese die deutsche Mannschaft schon wieder im Finale sähen.

Dass die Deutschen bei dieser Europameisterschaft weit kommen würden, hat sich Werner Wenger schon vor Beginn des Turniers gedacht: „Schließlich waren sie in der leichtesten Gruppe“, sagt er. Und Mutter Cigdem hat die Türken auch schon vor Beginn im Halbfinale gesehen. „Die haben einen guten Trainer“, sagt sie über Nationalcoach Fatih Terim.

Die Wengers sind sportbegeistert, Selin und Dilara spielen Hockey im Verein, und die ganze Familie fährt im Winter Ski und Schlittschuh. Und ihr Talent für den Fußball hat die fünfzehnjährige Selin erst vor kurzem gezeigt, an der Tankstelle. „Da konnte man auf eine Torwand schießen, und ich habe drei oder viermal getroffen“, sagt sie. Bei sechs Treffern hätte sie ein Auto gewonnen.

Zum Fußball haben die Wengers ohnehin eine besondere Verbindung: Denn der hat Werner und Cigdem Wenger nach Berlin gebracht. „Ich bin Hertha-Fan“, sagt er. Aus Begeisterung für den Verein kam er Mitte der siebziger Jahre in die Hertha-Stadt. Seine Frau kam zur selben Zeit mit ihrer Familie aus Ankara nach West-Berlin, ihr Vater arbeitete hier als Fußballer und Trainer. Sie selbst spielt allerdings nicht.

Bei den bisherigen Spielen der türkischen Nationalmannschaft hat sich die Familie aufgeteilt: Vater Werner und Deutschland-Anhängerin Selin saßen zu Hause vor dem Fernseher, Mutter Cigdem und die jüngere Tochter Dilara schauten die Begegnung mit vielen türkischen Fans in einem Café. „Am Freitag, während der Viertelfinalbegegnung gegen Kroatien, war ich fix und fertig“, sagt Cigdem Wenger.

Und ihr Mann habe sie schon ein bisschen genervt: „Viermal hat er mich angerufen und gesagt, ihr schafft das nicht“, sagt sie. Nach dem Sieg der Türkei sei er dann nicht mehr an sein Handy gegangen. Heute Abend schauen die drei Frauen der Familie Wenger das Halbfinale im Café, Vater Werner muss arbeiten. Cigdem Wenger will danach auf jeden Fall noch feiern gehen. „Wegen des Spiels bin ich schon ziemlich aufgeregt“, sagt sie.

„Ich auch“, schließt sich Tochter Dilara an. „Die Stimmung im Café ist toll, wenn ein Tor fällt, kocht die Stimmung und alle jubeln“, sagt Cidgem Wenger. Tochter Dilara hat auch beim Fußballtippen in der Schule auf die Türkei gesetzt. „Wir konnten in eine Liste eintragen, wer unserer Meinung nach Europameister wird“, erzählt sie. Und hofft, dass die Süßigkeiten, die die Falschtipper spenden müssen, am Ende an sie gehen.

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