zum Hauptinhalt

Vorsitzender Gideon Joffe umstritten: Wie es zum Bruch in der Jüdischen Gemeinde in Berlin kam

Als die Familie Gamal vor 19 Jahren aus der Ukraine nach Berlin kam, gab ihr die Jüdische Gemeinde Sicherheit. Großmutter, Mutter und Sohn wurden Anhänger Gideon Joffes, des neuen starken Mannes aus dem Osten. Der habe ihr Vertrauen missbraucht, sagen sie jetzt. Über einen eskalierenden Konflikt.

Großmutter Gamal fühlte sich zuhause. Und das war der 75-jährigen Frau viel wert, die in ihrer Familie Mord und Deportation und das Gefühl erfahren hat, nicht erwünscht zu sein. Die Jüdische Gemeinde gab ihr Sicherheit. Doch nun ist etwas für sie Undenkbares geschehen. Unter der mächtigen goldenen Kuppel der Synagoge an der Oranienburger Straße haben Juden gegen Juden die Hand erhoben.

Es tagte das Parlament der größten jüdischen Gemeinde. Erst gab es Wortgefechte, dann Beschimpfungen, und dann hat einer Jewgenij gewürgt. Jewgenij, ihren jüngsten Enkel, der im Gemeindeparlament sitzt. Und Großmutter Gamal lief, während die Gemeindevertreter aufeinander losgingen, verzweifelt auf und ab und rief: „Mein Vater wurde von den Nazis erschossen. Jetzt wird mein Enkel von Juden gewürgt!“ Tränen standen ihr in den Augen.

An jenem Donnerstagabend vergangener Woche ist ein Stück Heimat verloren gegangen. Vor 19 Jahren kamen die Gamals aus der Ukraine nach Berlin, und die Jüdische Gemeinde war ihre erste Anlaufstelle. Die Kultusabteilung prüfte ihren Pass und die Geburtsurkunden darauf, ob sie wirklich Juden sind. Sie durften wiederkommen. Und sie blieben. Jetzt weiß die Familie nicht mehr, ob sie bleiben kann, wo alles nur noch Streit und Feindschaft ist und – so sieht sie es – ausgerechnet der Mann die Gemeinde in den Abgrund zu reißen droht, auf den sie viel Hoffnung gesetzt hat: Gideon Joffe.

Vor gut einem Jahr haben sie ihn im Triumph zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde gewählt, seine Liste errang zwei Drittel der Parlamentssitze. Die Gamals haben für ihn gestimmt, mehr noch, sie haben für ihn geworben. Und den Jüngsten aus der Familie, den 31-jährigen Jewgenij, überredet, auf Joffes Liste zu kandidieren. Sie sahen in Joffe einen charismatischen jungen Mann, der als gebürtiger Litauer einer von ihnen zu sein schien und der so viel versprach: Dass niemand zu sparen brauche in der Gemeinde, dass der alte Vorstand einfach schlecht gewirtschaftet habe. Es wurde eine bittere Enttäuschung.

„Ich schäme mich, das ich dir geraten habe, bei Joffe mitzumachen“, sagt Jewgenijs Mutter zu ihrem Sohn.

Es ist Freitagabend, einen Tag nach der Prügelei. Beide sind in die Wohnung der Großmutter nach Charlottenburg gekommen. Drei Generationen sitzen dort nun, um zu erklären, was in der Jüdischen Gemeinde los ist, wie es so weit kommen konnte.

Man kann Rita Blekhova, so heißt die betagte Dame, leicht übersehen, weil sie klein ist. Aber sie fällt auf, weil sie diesen feuerroten Haarschopf hat.

Nun nimmt sie ein altes Bild von der Wand. Es wurde in den 30er Jahren aufgenommen in Perwomaisk in der südlichen Ukraine. Es zeigt ihre Eltern. Die Nazis holten den Vater ab. Seine Frau war schwanger mit dem dritten Kind und hatte ihm Reiseproviant gerichtet. Eine Stunde später war er tot. Erschossen. Die restliche Familie kam ins Ghetto. Rita war drei Jahre alt, ihr älterer Bruder fünf.

Das Schicksal der Familie blickt also immer von der Wand. Der Wohnzimmertisch ist gedeckt mit Piroggen, Obstspießen und Kirschkuchen. In Gläsern dampft Tee. Aber Rita Blekhova lässt ihn kalt werden, spricht schnell jetzt, die deutschen Sätze mischen sich mit russischen. Vielen Sätzen ruft sie ein hartes, kurzes „Ja“ hinterher. Die Erinnerung tut weh und braucht einen festen Rahmen.

Das Telefon klingelt. Es hat schon mehrmals geklingelt. Freunde und Bekannte rufen an und wollen sich austauschen über das, was am Donnerstagabend passiert ist.

Rita Blekhova hat Bildung und den Sinn fürs Schöne gegen das Dunkle der Vergangenheit gesetzt. Sie ist Grundschullehrerin und Musikpädagogin. Lippenstift und Nagellack passen zur Haarfarbe, selbst der Rosenstrauß auf dem Tisch harmoniert damit. „Die Ästhetik muss stimmen“, sagt sie. So hält sie es in ihrem Leben, die Wände in Apricot heben sich von der champagnerfarbenen Sofagarnitur ab, Tisch und Stühle aus transparentem Plastik geben dem Raum einen modernen Akzent.

In der Ecke des Wohnzimmers ist der große Flachbildschirm eingeschaltet, der Ton leise gestellt. Angespannt schielen die drei Gamals immer mal wieder hinüber. Auf keinen Fall wollen sie die Lokalnachrichten verpassen. Könnte ja etwas über den Tumult in der Jüdischen Gemeinde kommen.

Sie fühlen sich mitten hineinkatapultiert in einen Eklat, der auch ein bisschen mit verletztem Stolz und fehlender Anerkennung zu tun hat. Vielleicht zieht Rita Blekhova deshalb jetzt ein Diplom nach dem anderen aus einer Mappe. „Sehen Sie, alles mit Auszeichnung“, sagt sie. Früher in der Ukraine, da sei sie ein ganzer Mensch gewesen, anerkannt und respektiert. Auf Fotos sieht man sie Chöre und Ensembles leiten in Odessa, in Moskau. In Deutschland fehle diese Anerkennung, weil sie sich auf Deutsch nicht richtig ausdrücken könne.

So geht es vielen der knapp 10 000 Gemeindemitglieder. Die meisten sind wie die Gamals in den vergangenen 20 Jahren aus Teilen der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin gekommen. Die russische Sprache und die Vergangenheit verbindet sie. Sie waren nicht nur Opfer der Nazis, etliche haben in ihrer Jugend im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen, die Nationalsozialisten gekämpft. Nach dem Krieg wurden sie trotzdem in ihren Herkunftsländern als Juden oft ausgegrenzt. Auch das schweißt zusammen.

"Wir glaubten an ihn", sagt sie, groß und stattlich sei er.

Marina Gamal erzählt, dass die Familie zwar nicht sonderlich religiös gewesen sei, dass sie Juden waren, habe trotzdem jeder gewusst. Es habe im Pass gestanden, und der Vater habe Arkadi Israeliwitsch geheißen und Jiddisch gesprochen. Marina war wie ihre Mutter Rita Blekhova sehr gut in der Schule und wäre gerne Ärztin geworden. Doch die Studienplätze für begehrte Berufe waren für Juden in der Ukraine begrenzt. So wurde auch sie Lehrerin und Chorleiterin. Als Deutschland nach dem Mauerfall die Tore für Juden aus der Sowjetunion öffnete, packten sie die Koffer. Die Gamals erzählen lebhaft, fallen sich gegenseitig ins Wort und lachen laut. Mehrmals mahnt der Enkel liebevoll, Mutter und Großmutter mögen ihre Stimme senken. Sie denkt gerne an ihre Jugend in der Ukraine zurück, so ist es nicht, sagt Marina Gamal, die kurzen schwarzen Haare sitzen perfekt, die Augen sind mit Kajalstift und Tusche markant gerahmt. Aber der Sohn sollte einmal studieren können, was er wollte. Auch heute haben es die Gamals nicht so sehr mit Gott. Ihre „Jüdischkeit“, wie Marina sagt, speist sich aus anderen Quellen: „Es ist unser Geist, unsere Kultur, das Gefühl, zu diesem Volk zu gehören.“

Es ist schon spät, da kündigt der Nachrichtensprecher tatsächlich einen Bericht über die Jüdische Gemeinde an. Die Gamals springen auf, eilen vor den Bildschirm. Doch erst kommen Neuigkeiten zum Berliner Flughafen.

1989 hatte die Jüdische Gemeinde in Westberlin 5500 Mitglieder. Dann kamen binnen weniger Jahre 7000 Zuwanderer aus dem Osten. Dennoch bestimmten weiterhin die Einheimischen die Gemeindepolitik. Gideon Joffe wollte das schließlich ändern. Im Wahlkampf sagte er den Zuwanderern: Gerade ihr seid wichtig für die Gemeinde. Wo die Einheimischen die Ehrgefühle der Zugewanderten absichtlich oder unbewusst verletzten, stellte er sich vor sie und forderte Genugtuung. Einmal brachte er den Gamals einen Blumenstrauß nach Hause. Er hatte eine Aufführung des Veteranenchors gesehen, Rita Blekhova leitet ihn seit 18 Jahren ehrenamtlich. Auch Marina Gamals Engagement in der Kindergruppe, die sie selbst ins Leben gerufen hat, galt der Dank. Das machte Eindruck.

„Wir glaubten an Joffe“, sagt Rita Blekhova. „Er ist groß und stattlich, spricht Deutsch und Russisch, wir dachten, er ist einer von uns.“

Als Joffe sie fragte, ob sie auf seiner Liste kandidieren wolle, lehnte Marina Gamal ab, ihr Deutsch sei zu schlecht. Sie fragte Jewgenij. Er hat Jura studiert, ist seit zwei Jahren Anwalt, und im Studium verdiente er sich in seiner Freizeit Geld als DJ. Er dachte: Warum nicht eine neue Erfahrung machen? Großmutters Veteranenchor sang auf Joffes Wahlkampfveranstaltungen, Mutters Kindergruppe tanzte.

Oft wurden die Konflikte innerhalb der Jüdischen Gemeinschaft mit kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden zwischen Einheimischen und Zugewanderten erklärt. Doch auch die Zuwanderer sind keine homogene Gruppe. Es gab verschiedene Einwanderungswellen, erklären die Gamals, und mit ihnen kamen unterschiedliche soziale Schichten. In den 90er Jahren seien vor allem Akademiker wie sie selbst hier gestrandet. Einige, die früher da waren, hätten sie als Konkurrenten wahrgenommen.

Wenn ihnen jemand blöd gekommen sei, sagen die Gamals, dann seien das nicht die Deutschen, sondern immer die eigenen Leute gewesen. Erste Zweifel an Joffes Politik kamen Jewgenij Gamal, als er feststellte, dass es der Gemeindevorsitzende mit dem von ihm verkündeten Ziel der Transparenz offenbar nicht ernst meinte. Der Opposition wurde verschwiegen, was wichtig war, und auch er selbst habe immer weniger erfahren, sagt er. Er fragte beharrlich nach und hinterfragte bisweilen auch, was Joffe vorschlug. Er kritisierte ihn auch mal öffentlich oder stimmte gegen die eigene Fraktion, wenn er etwas für falsch hielt.

Joffe warnte ihn. Jewgenij ließ sich nicht beirren. Nach einem Jahr entzog ihm der Vorstand das Kulturdezernat. Als Begründung hörte er von Joffe, er habe zu oft gegen den Fraktionszwang verstoßen. Dies habe die Mitglieder der Gruppe aufgeregt. Denn auch die würden gerne anders als die Gruppe entscheiden, erlaubten sich das jedoch nicht, weil sie als Gruppe immer geschlossen mit einer Stimme entscheiden müssten.

Von Fraktionszwang steht freilich nichts in der Wahlordnung der Gemeinde. Wenn Joffe von Außenstehenden auf Gamals Entlassung angesprochen werde, schiebe er die Schuld auf die anderen im Vorstand, erzählt Gamal. Wie es wirklich war, kann er nicht herausfinden. Ein Verlaufsprotokoll der entscheidenden Sitzung gibt es angeblich nicht. Es sei lediglich das Ergebnis festgehalten worden.

Joffe sagt zur Entlassung, der Kulturdezernent Gamal habe „mehrfach im Konsens gefundene Entscheidungen nicht mitgetragen“. Fraktionszwang mag er das nicht nennen.

Da, endlich, ist auf dem Fernsehbildschirm die goldene Kuppel der Synagoge in Mitte zu sehen. Ein Symbol der wieder hergestellten alten Pracht. Doch die Gemeinde ist finanziell chronisch klamm. Viele Mitglieder sind arbeitslos – zum Teil weil deren Diplome zu spät anerkannt wurden. Und dann soll es auch eine alte Schwäche seit den Tagen Heinz Galinskis sein, dass Bedürftige mit Arbeit in der Gemeinde versorgt würden.

Jetzt stoppte der Senat die Zahlung seiner Zuschüsse, da er den von Joffe vorgelegten Wirtschaftsplan nicht akzeptierte. Der Prügelei ging eine Abstimmung voraus, bei der Joffe die Beleihung eines Gemeindegrundstücks durchsetzte, um die Mai-Gehälter der Mitarbeiter zahlen zu können. Gamal und andere wollten wissen, um welches Grundstück es sich handelt, um welche Summen. Joffes Gruppe verhängte mit ihrer Zweidrittelmehrheit kurzerhand einen „Debattenstopp“. In der Pause gingen Anhänger von Joffe auf die Opposition los. Der kleine, schmal gebaute Jewgenij sah sich einem zwei Köpfe größeren Gemeindemitarbeiter mit breitem Kreuz gegenüber, dessen Hände am Hals. Als einer der Repräsentanten anfing, den Tumult zu filmen, nahm ihm Joffe das Handy ab, löschte die Dateien.

Der Fernsehbericht ist zu Ende, Marinas Wangen sind gerötet. „Die Menschen sprechen nicht mehr frei miteinander“, sagt sie über die vergiftete Atmosphäre. Jeder überlege erst, zu welchem Lager der andere gehöre. Früher sei er einfach in irgendeine Synagoge gegangen, ergänzt Jewgenij. Heute müsse er sich rechtfertigen, ob er bei den Orthodoxen bete oder bei den Liberalen, je nachdem, mit wem er es zu tun habe.

Die Gamals haben die Seiten gewechselt. Am Sonntag treffen sie sich wieder mit Joffes Gegnern, um Unterschriften für eine Neuwahl zu sammeln.

„Die Gemeinde ist unser Lebensmittelpunkt“, sagt Rita Blekhova. „Wir können nicht zulassen, dass sie vernichtet wird.“

Nach Frieden klingt das nicht.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Zur Startseite