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Qual der Wahl: Unterlagen zu den französischen Präsidentschaftskandidaten.

© dpa/Daniel Karmann

Junge Franzosen in Berlin: „Bei dieser Wahl geht es um mehr als Frankreich"

Viele junge Franzosen leben in Berlin und werden heute von hier aus wählen. Le Pen? Fillon? Niemals! Sie wünschen sich eher linke Kandidaten.

Die Klischees stehen auf den Tischen: Rotwein und Saftschorle. Einmal pro Woche trifft sich der Deutsch-Französische Stammtisch, eine lose Facebookgruppe aus Exilanten und frankophilen Deutschen. An diesem Abend – kurz vor der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen – quetschen sich 30 Leute in den kleinen Gastraum des „Canapé Rouge“ in der Kreuzberger Friesenstraße. Nicht alle kennen sich, aber das ist schnell beigelegt. Tchin-tchin! Prost!

Inmitten der Runde sitzt Jérôme Chardenoux. Er organisiert die Treffen seit zwei Jahren, jede Woche an einem anderen Ort. „Drei Viertel der Leute sind Franzosen, der Rest sind Deutsche.“ Für Franzosen, die neu in Berlin sind, ist der Stammtisch oft die erste Anlaufstelle. Bekanntschaften machen, Deutsch sprechen, Hilfe bei „la Haftpflichtversicherung, le Papierkram“, erzählt Chardenoux. Der 25-Jährige lebt seit vier Jahren in Berlin und er will bleiben. „Paris ist wahnsinnig stressig und eng, in Berlin ist die Lebensqualität viel höher, es ist günstig, grün, man ist schnell am See.“ Für ihn und andere junge Franzosen zähle außerdem, dass hier viele Start-ups und Onlinehändler angesiedelt sind. „Eine Branche, in der man auch jung schon Verantwortung übernehmen kann.“

Wahl "zwischen Pest und Cholera"?

Verantwortung zu übernehmen, das traut er unter allen elf Kandidaten für das Präsidentenamt vor allem Emmanuel Macron zu, dem 39-jährigen Polit-Shootingstar, der keiner der traditionellen Parteien angehört. Eigentlich, sagt Jérôme Chardenoux, werde beim Stammtisch ja nicht über Politik geredet. Zu heikel, zu emotional, oh là là. Aber wenn man es nun so genau wissen wolle: Macron, der frühere Investmentbanker, sei eben der einzige Kandidat, der nicht nur Politik betrieben, sondern auch mal gearbeitet habe. Ein anderer junger Franzose am Tisch nickt. Vor allem aber stehe Macron für ein offenes Europa, fährt Chardenoux fort – für das Europa, in dem er sich wohlfühlt. Müsste er sich in der Stichwahl in zwei Wochen zwischen dem konservativen François Fillon und der rechtsextremen Marine Le Pen entscheiden, es wäre eine Wahl zwischen „Pest und Cholera“.

"Es geht um mehr als Frankreich"

In einer Berliner WG sitzt Anaïs Morand am Küchentisch und seufzt. Auch sie blickt mit Sorge auf die Wahlen. Die 32-Jährige lebt seit drei Monaten in Berlin. Sie folgte Freunden und Verwandten, die schon länger hier leben, und möchte in Berlin als Französischlehrerin arbeiten. Die Wahl beschäftigt Morand schon lange: „Bei dieser Wahl geht es um mehr als Frankreich.“

Morand hat in England und Österreich gearbeitet, ein Erasmus-Semester in Deutschland gemacht. Nun sorgt sie sich, dass die Freiheiten, die ihr Europa ermöglicht, verloren gehen könnten. „Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als Marine Le Pen und ihren Front National an der Macht. Ich glaube, viele verstehen gar nicht, was für Folgen das hätte.“ Aber auch Emmanuel Macron sieht Anaïs Morand kritisch – für sie ist er ein „Neoliberaler mit moderater Fassade“. Sie zieht den Linken Jean-Luc Mélenchon vor. Nach letzten Hochrechnungen hat auch er Chancen auf das Präsidentenamt. „Für Europa wäre es das bessere Signal“, sagt die Wahlberlinerin.

Ein weißer Stimmzettel meint Protest

Matthieu Rigal sieht das ganz anders – kein Wunder, denn der 32-Jährige ist aktives Mitglied des Berlinablegers des Parti Socialiste, ein ruhiger, bedächtiger Softwareentwickler, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt und sagt, dass ihn das Leben in Berlin politisch beeinflusst habe. „Umwelt und Europa, das sehe ich jetzt etwas anders als früher.“ Die deutsche Europapolitik gefällt ihm – was Mélenchon vorhat, dagegen weniger. „Er denkt, er kann sich die besten Sachen aus der EU herauspicken.“ Klar, Rigal steht hinter dem Sozialisten Benoît Hamon, der aber kaum Chancen hat. Was, wenn am Ende nur die Wahl zwischen Fillon und Le Pen bleibt? „Vote blanc“, sagt Rigal knapp. Ein weißer Stimmzettel, das bedeutet Protest, aber er könne nicht anders.

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