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Vor der Wahl. Kandidaten-Check in der Auferstehungskirche Kleinmachnow: René Springer (AfD), Manja Schüle (SPD), Annalena Baerbock (Grüne), Linda Teuteberg (FDP), Norbert Müller (Linke), Stephan-Andreas Casdorff (Tagesspiegel), Saskia Ludwig (CDU), v.li.

© Manfred Thomas

Wahlkampf in Potsdam und Umgebung: "Hey, Politik ist nicht alles"

Der Brandenburger Wahlkreis von Potsdam und Umgebung ist hart umkämpft. Bei einer Kandidatenrunde von Tagesspiegel und PNN zeigten die Bewerber eine seltene Offenheit.

Plötzlich wurde René Springer sehr persönlich. Der 37-Jährige will für die AfD in den Bundestag. Er ist Mitarbeiter von Alexander Gauland, einer, der dessen jüngste Entgleisung gegen die deutsche Integrationsministerin ("entsorgen") nur "sprachlich verunglückt", aber inhaltlich richtig findet. Doch nun erzählte er über seinen Einsatz als Soldat in Afghanistan. Wie er vorher, damals konfessionslos, ohne jeden familiären Bezug zur Kirche und aufgewachsen in Marzahn, im Greifswalder Dom Beistand suchte, wie er dort „aus Angst heraus“ Gott um Hilfe bat: Dass seine damals sechsjährige Beziehung das aushalten möge. „Die andere Bitte war, dass weder ich noch meine Kameraden zu Schaden kommen. Bei beiden hat mir Gott leider nicht geholfen.“

Noch ist nichts entschieden

Es war nur eine Szene, aber typisch für diesen Wahlkampftermin am Freitagabend in der Auferstehungskirche in Kleinmachnow. Der evangelische Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf hatte gemeinsam mit Tagesspiegel und PNN zum „Kandidatencheck“ im brandenburgischen Bundestags-Wahlkreis 61 geladen, zu dem Potsdam und die umliegenden Gemeinden gehören.

Es ist einer der spannendsten Wahlkreise Brandenburgs: hart umkämpft, prominente Bewerber. Und gut 170 Zuhörer kamen, und sie konnten in einer rappelvollen Kirche – unter der Moderation von Tagesspiegel-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff – Politiker erleben, die sich öffneten wie sonst selten.

"Hey, Politik ist nicht alles"

Was sollten Wähler von ihnen unbedingt wissen? Da bekannte Annalena Baerbock, 36 Jahre, für die Grünen bereits im Bundestag und Mutter von zwei kleinen Kindern, wie sie sich anfangs „mit anderen Verpflichtungen“ bei Abendterminen entschuldigte. Inzwischen sage sie, „ich möchte heute Abend zu Hause sein und meine Kinder ins Bett bringen.“ Es sei ihr wichtig, die Balance zu wahren, so wie andere berufstätige Mütter auch. „Hey, Politik ist nicht alles.“ Im Bundestag, wo selbst in den eigenen Reihen die nationale Sichtweise dominiere, sehe sie sich „Proeuropäerin“. Es könne doch nicht sein, dass dort nur Ältere sind und „zwei Drittel der Leute kein Englisch können.“

Oder Saskia Ludwig, 48 Jahre, die CDU-Landtagsabgeordnete und frühere Parteichefin, nach den Prognosen die Favoritin im Wahlkreis, mit leichtem Vorsprung: „Ich habe mich in der Schule geprügelt.“ Und zwar immer dann, wenn „ein Großer sich Kleinere vorgenommen“ habe. „Da bin ich dazwischen gegangen.“ Das habe sie nie ablegen können. Wenn Stärkere das ausnutzen, sei sie auf dem Plan. Sind Sie eine Rechte? Mit Rechts-Links-Kategorien könne sie nichts anfangen, sagte Ludwig.

"Ich bin nicht AfD-nah.“ Sie sind? „Liberalkonservativ.“

Die Nachdenkliche, jede Antwort Abwägende auf dem Podium war Linda Teuteberg (FDP, 36). „Es fällt mir im Persönlichen schwer, Vertrauen zu fassen.“ Das habe mit Erfahrungen zu tun. „Deshalb weiß ich, wie wichtig Vertrauen ist, wie schnell es verloren gehen kann.“ Deshalb mache sie es sich „oft vielleicht schwerer“, seien schnelle, einfache Antworten ihre Sache nicht.

Einladung vom Oberbürgermeister aus Heilbronn

SPD-Bewerberin Manja Schüle (41) legte Wert darauf, „keine Berufspolitikerin“ zu sein. Schließlich kandidiere sie erstmals für ein Vollzeitparlament, sei über zwei Jahrzehnte ehrenamtlich tätig gewesen, habe als Mitarbeiterin im Parlaments- und Regierungsbetrieb Brandenburgs aber Einblick in die Abläufe. Was sie antreibt? Sie sei in Frankfurt/Oder aufgewachsen, die Mutter alleinerziehend, „Platte, wie im Film ,Halbe Treppe' von Andreas Dresen.“ Es sei alles andere als selbstverständlich gewesen, dass sie das Abi machte. Als die Mauer fiel, sei Heilbronn Partnerstadt geworden, das war ihr unbekannt. Sie, damals noch Schülerin, habe dem dortigen Oberbürgermeister geschrieben, dass sich Partner kennenlernen müssten. „Ich hatte nie damit gerechnet, dass er sich meldet.“ Tat er aber, sie fuhr in den Sommerferien hin. Den Dingen auf den Grund gehen, vom Menschen her, nicht von abstrakten Studien - so mache sie Politik.

Tomaten für die Nachbarn

„Ich wollte nie auf dem Land wohnen. Das war mir zu provinziell“, gab Norbert Müller (Linke, 31) preis, ebenfalls bereits Abgeordneter im Bundestag, aufgewachsen in der Provinz. Inzwischen sei er mit der Familie nach Fahrland gezogen, aufs Dorf, auch der hohen Mieten in Potsdam wegen. „In den sitzungsfreien Wochen habe ich immer zwei Tage geblockt.“ Die seien dann Tabu für Termine. „Sonst dreht man durch, wenn man den ganzen Kram nicht auch mal ausstellt, das Handy, das Radio.“ Er brauche dies, um dann „mit den Händen in der Erde zu arbeiten“, im riesigen Garten. „Inzwischen versorge ich die Nachbarn mit Tomaten.“

Ganz abgesehen vom Politisch-privaten, was Einiges über die Kandidaten sagte, ging es unterm Kirchendach konträr zur Sache. Etwa um die Frage, was der Wahlkreis 61, die Region, vom künftigen Wahlkreis-Abgeordneten erwarten könne. Da war Ludwig die Konkreteste, die für die Region eine Taktverdichtung beim Regionalexpress, die Öffnung der Straße von Dreilinden nach Berlin für Busse und eine Ansiedlung zur Hochbegabtenförderung herausholen will.

Die Gegenposition lieferte Springer. „Im Grunde nichts“, sagte er. Er sei dagegen, unrealistische Erwartungshaltungen zu wecken. Er kandidiere für ein nationales Parlament, die Möglichkeiten eines einzelnen Abgeordneten seien begrenzt.

Die anderen sortierten sich dazwischen ein. Man sollte da mit Ankündigungen vorsichtig sein, sagte Baerbock. Sie wolle im Wahlkreis präsent sein, wie bisher auch. Müller wiederum verwies auf den Bundesverkehrswegeplan. Der sei ja ein Musterbeispiel, wie bayerische Parlamentarier Wunschprojekte für ihre Wahlkreise durchgesetzt haben.

Die Flüchtlings- und Migrationspolitik dominierte diesen Talk nicht, war aber neben Tempolimits und Wachstumsbegrenzungen eines der beiden Felder, die auf Wünsche aus Publikum besprochen wurden. Einig waren sich alle nur darin, dass ein Einwanderungsgesetz nötig sei. Ansonsten lagen die Positionen - weitgehend entsprechend den Parteilinien – weit auseinander. So sprach sich AfD-Bewerber Springer auch gegen jedweden Nachzug der Familien jener Flüchtlinge aus, die nach Deutschland gekommen sind.

Auch Ludwig vertrat diese Position. „Wir wissen noch nicht einmal, wen wir hier schon alles haben. Und wie viele es sind.“ Und das sei schon eine Riesenaufgabe. „Als Politiker haben wir auch die Aufgabe, die Bürger bei uns zu halten.“ Wenn wir den Familiennachzug in der Größenordnung zulassen würden, befürchte sie, „dass wir viele Bürger, aber auch unser Rechts- und Sicherheitssystem überlasten würden. Deswegen: Nein.“ Dagegen nannte es Baerbock die „schlimmste Entscheidung des Bundestags“, den Familiennachzug auszusetzen.

„Wo ist das verdammte Problem, wenn Menschen zu uns kommen?“

„Was ist denn das größere Problem, einige Zehntausend, die nach Brandenburg kommen? Oder tausend Rassisten?“, argumentierte Müller. Er verwies auf den „Rückbau“ in den ländlichen Regionen Brandenburgs in den letzten 25 Jahren aufgrund sinkender Einwohnerzahlen. „Wo ist das verdammte Problem, wenn Menschen zu uns kommen?“ Er sprach sich dafür aus, denen, die fünf Jahre hier sind, auch das Wahlrecht zu geben. Damit war er der einzige.

Teuteberg wandte sich gegen eine Verschärfung des Asylrechtes, sprach sich aber für eine konsequentere Anwendung aus. Und Schüle, die in einem Flüchtlingscafé hilft, Betroffene kennt, sagte: Man dürfe nicht dem Sterben auf dem Mittelmeer zusehen, mit dem Argument, Deutschland sei ja von sicheren Drittstaaten umgeben, habe damit nichts zu tun. Man dürfe Griechenland und Italien nicht im Stich lassen.

Der Abend, für das Publikum erhellend, endete mit einem langen Applaus. Und auch unter den Kontrahenten blieb es versöhnlich, was Teil der Dramaturgie von Kirche und Moderator war, „um im Guten auseinander zu gehen.“ Jeder sollte das kundtun, was ihm an einem der Mitbewerber besonders gut gefallen hat. Da lobten sich Teuteberg und Ludwig, Baerbock und Müller.

Frau Schüle, was finden oder fanden Sie heute gut an Herrn Springer?

Nach kurzem Ringen antwortete Manja Schüle: „Das einzige, was ich von ihm mitnehme, wo ich nicht mit aller Inbrunst gegen seine Partei kämpfen werde, ist das, was er anfangs über sich persönlich erzählt hat.“

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