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Nur verwaltungstechnisch eine Einheit: der sich baulich ständig verändernde, schicke Stadtteil Mitte, der alte „rote Wedding“, noch immer multikulti, und der eher bürgerliche, grüne Altbezirk Tiergarten.

© picture alliance/ZB/euroluftbild

Wahlkreis Mitte: Swing State an der Spree

Der Wahlkreis Mitte ist so vielfältig und politisch umkämpft wie kein anderer. Dort kämpfen eine NSU-Untersucherin, ein bekannter Bildungsexperte und ein Mann, der leugnet, Berufspolitiker zu sein, um das Direktmandat. Die Kandidaten setzen dabei auf gegensätzliche Strategien.

Ein bisschen fühlt man sich in dieser ausgebauten Ladenwohnung wie in einem Wahlkampfbüro in den USA. Und das mitten in Wedding, gleich hinterm Leopoldplatz. „Das hier sind die Swing States“, sagt Claudius Brüning, Wahlkampfleiter der Grünen in Mitte, und deutet auf einen Stadtplan an der Wand: Bundestagswahlkreis 75, Berlin-Mitte. Das Faible für Begriffe aus dem US-Wahlkampf teilt er mit seinem Chef, dem Direktkandidaten Özcan Mutlu. Der spricht von „Battlefield States“ und meint Viertel, in denen der Abstand zur Konkurrenz knapp ist und in denen er sich bis zum 22. September am stärksten engagieren will.

NSU-Untersucherin gegen Bildungsexperten

Mutlus Hauptgegnerin ist Eva Högl von der SPD. Die hat vor vier Jahren den Wahlkreis direkt mit 26 Prozent der Erststimmen gewonnen und sich seitdem bundesweit einen Namen als Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages gemacht. Bei den Zweitstimmen jedoch lagen in Mitte 2009 die Grünen vorn. Jetzt hoffen sie, dass die sozialen Veränderungen im 330 000 Einwohner zählenden Wahlkreis ihnen helfen. „Der rote Wedding ist bald grün“, sagt Mutlu später beim Spaziergang durchs Viertel. Nicht nur wegen der Sympathiebekundungen, die der 45-Jährige von Passanten erhält, hat man den Eindruck: illusorisch ist das nicht. Aber es könnte auch einen lachenden Dritten geben.

Weniger als fünf Prozentpunkte liegen in Mitte die Direktkandidaten von SPD, Grünen und CDU auseinander, so hat der für seine genauen Prognosen bekannte Wahl-Dienstleister Election.de berechnet. „Das wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen“, sagt Mutlu. Deswegen setzt er auf Angriff. Sein Konterfei scheint auf Plakaten omnipräsent, auch wenn die SPD mehr Wahlhelfer hat. Mit Aktionen wie „Mutlu rennt“, „Mutlu kocht“ und einem Plakatmalwettbewerb inszeniert er seine Kandidatur als Event. In Diskussionen ist er von den Bewerbern der angriffslustigste. Und mit seinen knallgrünen Hemden hebt er sich auch optisch von Högl und dem CDU-Kandidaten Philipp Lengsfeld ab, die mehr auf Business-Look setzen.

Bezirk der Gegensätze

Mutlu hofft, von der einzigartigen sozialen Mischung des Wahlkreises profitieren zu können wie auch von dessen Veränderungen. Mitte ist geprägt von extremen Gegensätzen. Der einstige West-Stadtteil Wedding ist nach wie vor ein sozialer Brennpunkt mit Arbeitslosigkeit, Armut und vielen Bewohnern mit ausländischen Wurzeln. Zugleich zieht es immer mehr jüngere Leute dorthin, Künstler und Studenten. Der frühere Ost-Stadtteil Mitte hingegen wird immer mehr zum Luxusviertel, geprägt vom Regierungssitz und teuren Geschäften. Sozial und wirtschaftlich dazwischen liegt Tiergarten, früher West, das mit schicken Altbauten an der Spree bürgerliche Zuzügler anlockt.

Einen Teil dieser Mischung repräsentiert Mutlu, der sich als Kind türkischer Einwanderer im Abgeordnetenhaus zum anerkannten Bildungspolitiker hochgearbeitet hat. Er und seine Helfer ziehen mit grünen Taschen von Tür zu Tür, in denen das Faltblatt mit seinem Konterfei in vier Ausführungen enthalten ist: Familien preist der Kandidat sich als zweifacher Vater an, Wählern mit ausländischen Wurzeln erzählt er von seiner eigenen Geschichte als Einwandererkind, älteren Wählern präsentiert er die Grünen-Pläne für Renten und Wohnen, und mit Singles spricht er über Mieterschutz, Wissenschaftspolitik und Energiepolitik. „So eine Vielfalt gibt es in kaum einem anderen Wahlkreis“, sagt auch Eva Högl bei einer Kaffeepause in der einladend sanierten Arminiusmarkthalle in Moabit. Die SPD-Direktkandidatin wohnt mit ihrem Mann nicht weit entfernt, in einem Baugruppenhaus im Sprengelkiez. Der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück wohnt im selben Haus und tritt schon mal zusammen mit Högl auf . Die 44-Jährige strahlt Zuversicht aus, auch wenn sie weiß, dass ihre SPD in der einstigen Hochburg der Arbeiterparteien Boden verloren hat. „Das wird ein enges Rennen“, sagt die Juristin, die seit 2009 im Bundestag sitzt.

Philipp Lengsfeld könnte der lachende Dritte sein

Ihr könnte nützen, dass sie im Kiez gut vernetzt ist und dass viele Bürger ihr Gesicht mit der Aufarbeitung der Affäre um die Neonazi-Terrorgruppe NSU verbinden. Gerade bei Gesprächen mit jüngeren Wählern und Migranten merke sie, dass der NSU-Ausschuss sehr genau verfolgt worden ist. Auf ihrer Bekanntheit ruht sie sich nicht aus, sondern zieht von Tür zu Tür und verteilt Handzettel mit ihrem Konterfei – auf Deutsch und Türkisch. Högl kämpft vor allem darum, frühere SPD- Wähler zurückzugewinnen. Armut, Mieten, Verdrängung und Integrationspolitik seien Themen, die diese Menschen besonders bewegten.

Wenn zwei sich streiten

Klingelputzen hätte sie, um erneut in den Bundestag zu kommen, eigentlich nicht nötig. Sie steht auf dem ersten Platz der SPD-Landesliste, ihr Wiedereinzug ist quasi garantiert. Aber ähnlich wie Mutlu, der den sicheren Platz 2 der Grünen-Liste besetzt, will Högl den Wahlkreis direkt gewinnen. Schon weil es sein kann, dass die SPD sonst keinen oder mit Pankow höchstens noch einen zweiten Wahlkreis in der Hauptstadt direkt gewinnt. Für die Grünen wäre es nach Kreuzberg der zweite Direktwahlkreis, dazu noch solch ein prestigeträchtiger.

Vielleicht kommt aber auch alles ganz anders. Darauf setzt Philipp Lengsfeld. Der promovierte Physiker, der in Mitte für die CDU ins Rennen geht, könnte Högl und Mutlu gleichermaßen einen Strich durch die Rechnung machen. Denn die Wahlforscher gestehen auch der CDU eine realistische Chance zu, den Wahlkreis zu erobern.

Ein Kandidat, kein Berufspolitiker

Das hat viel mit dem Popularitäts-Höhenflug der Kanzlerin zu tun, aber einiges auch mit den sozialen Veränderungen in der östlichen Innenstadt. Zwar sei der Wahlkreis aus CDU-Sicht strukturell ein „schwieriges Umfeld“, sagt Lengsfeld, der bei Bayer als internationaler Kooperationsmanager arbeitet. Aber bei den neu Zugezogenen, wie auch bei den älteren Wählern gerade im einstigen Ost-Bezirk Mitte, sieht Lengsfeld Potenzial für seine Partei. „SPD und Grüne werden leicht zulegen, wir deutlich“, lautet seine Prognose für den 22. September. In der direkten Auseinandersetzung mit Högl und Mutlu, die beide so professionell wie einnehmend auf andere Menschen zugehen, fällt es dem eher nachdenklich und ernst wirkenden Lengsfeld allerdings nicht leicht, die Herzen der Wähler zu gewinnen. Der Christdemokrat ist kein professioneller Selbstvermarkter und will das auch nicht sein. „Ich werde den Überbietungswettbewerb nach dem Motto: Wer macht die blumigsten Versprechen? nicht gewinnen können“, sagt der 41-Jährige.

Während sich Mutlu und Högl aus seiner Sicht darin überbieten, wer die linkeren Positionen vertritt, präsentiert sich der zweifache Familienvater konservativ-bürgerlich. Als Quereinsteiger betont er seine Distanz zum Politikbetrieb. „Mein Trumpf sind die Erfahrungen und Fähigkeiten, die ich außerhalb der Politik gesammelt habe“, sagt er. Auch wenn er durch seine Mutter, die einstige DDR-Bürgerrechtlerin und spätere CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld, seit seiner Jugend viel Politikerfahrung gesammelt habe. 15 Jahre hat Philipp Lengsfeld zudem in der Bezirksverordnetenversammlung Pankow Kommunalpolitik gemacht, erst für die Grünen, seit 2001 für die CDU. Dennoch grenzt er sich demonstrativ von seinen Konkurrenten ab, deren Job die Politik ist. Treffen die drei bei Podiumsrunden aufeinander, stellt er sich so vor: „Ich bin Kandidat, kein Berufspolitiker.“

Die anderen Kandidaten

Die Linke: Dr. Klaus Lederer, geboren 1974 in Schwerin. Beruf: Rechtsanwalt

FDP: Hartmut Bade, geboren 1961 in Hannover. Beruf: Selbstständig

Piraten: Therese Lehnen, geboren 1963 in Schwalmtal. Beruf: Rechtsfachwirtin

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