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Gruß an die Großeltern. Die Aufnahme entstand im September 1961, als ein West- Berliner Elternpaar mit seinen Zwillingen zur Grenze fuhr. Foto: akg-images

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Berlin: Wand an Wand

Brigitte Grunert (West) und Lothar Heinke (Ost) erinnern sich an ihr geteiltes Schicksal

Der 13. August 1961 ist ein schöner Sommersonntag. Die Sonne lacht am blauen Himmel, doch die Stimmung ist verdüstert. Was seit den Nachtstunden passiert, schlägt den Berlinern aufs Gemüt. Unfassbar, das SED-Regime macht die Sektorengrenze dicht, S-Bahn und U-Bahn fahren nicht mehr durch. Überall dröhnt das Radio, überall schrillt das Telefon. Erregt wird die Lage erörtert. Wer hat in letzter Minute den Absprung in den Westen geschafft? Ist es jetzt irgendwo schnell noch möglich? Ost- und West-Berliner können freilich nicht miteinander telefonieren, die Leitungen sind seit 1952 gekappt.

Bis zu dieser schrecklichen Zäsur gibt es für die meisten nur ein Berlin, allem kalten Kriegsgetöse zum Trotz. Was ist schon normal in Berlin? Das Unnormale eben. Punkt. Und plötzlich soll es vorbei sein mit dem Hinüber und Herüber, mit all den Bindungen, mit der Hoffnung auf Wiedervereinigung?

Ja, man hat etwas geahnt, vor allem die Ostler, die mit der Massenflucht reagierten. Aber das doch nicht! Drastische Kontrollen an der Stadtgrenze haben Westler zu der Annahme verleitet, es gehe darum, die „Zonen-Bewohner“ von ganz Berlin fernzuhalten, um Fluchtwege zu versperren. Bekümmert erklärt eine Mutter ihrer Tochter, es werde „wohl 25 Jahre dauern, bis es wieder anders kommt“, eine erstaunlich realistische Prognose.

Die Szene ist gespenstisch. Auf der Ostseite wirken die Menschen wie erstarrt, Polizeiketten halten sie weit auf Abstand von der Grenze, während Besucher aus dem Westteil das Tor im Stacheldraht zu Fuß oder im Auto nach höflicher Ausweiskontrolle passieren dürfen. Erst am nächsten Tag ist es zu, einige Übergänge bleiben bis zum 22. August für West-Berliner offen.

Seltsam, die Westalliierten sagen keinen Ton. Sie lassen sich Zeit, Militärstreifen an die Grenze zu beordern, erst recht mit ihrem Protest. Das irritiert, es bringt die Berliner zusätzlich auf. Sie fühlen sich verloren, verraten und verkauft. Fehlt bloß noch, dass „die Russen kommen“. Blockade-Berliner packt die Angst. Doch die Westmächte wissen, dass ihre Rechte unberührt sind, kein Millimeter West-Gebiet wird angetastet.

Kein Ostler darf sich Luft machen, die Westler tun es. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, der genauso empört ist, kanalisiert die Wut fürs erste bei einer Protestkundgebung vor dem Rathaus Schöneberg, zu der mehr als 300 000 Menschen strömen. Rufe werden laut, die S-Bahn zu meiden, die in DDR-Regie fährt. Der S-Bahn-Boykott wird dieses Verkehrsmittel viele Jahre lahmlegen.

Immerhin schickt US-Präsident John F. Kennedy seinen Vize Lyndon B. Johnson nach Berlin. 1500 Mann Verstärkung der US-Truppen rücken demonstrativ über die Interzonen-Autobahn an. Dankbarer Jubel ist ihnen sicher. Allerdings ändern symbolische Gesten und Proteste nichts daran, dass eine ganze Stadt erst einmal in Depression fällt.

Erschüttert winken weinende Ost- und West-Berliner einander über die Barrieren hinweg zu. Familien sind zerrissen, Nachbarschaften, Freundschaften, Liebesbeziehungen. 50 000 östliche Arbeitnehmer bleiben weg, im Westen stehen Werkhallen leer. Wer sich am 14. August im Osten beim Arbeitsamt meldet, hat nichts zu lachen. Ebenso geht es den Schülern und Studenten, die in West-Berlin die Schule oder Universität besucht haben.

Findige entschlüpfen dem Osten in den ersten Tagen noch an unauffälligen Stellen. Spontan sind auch beherzte westdeutsche und ausländische Helfer zur Stelle. Sie benutzen selbst ungefälschte West-Ausweise. Hauptsache, das Foto weist genug Ähnlichkeit mit der Person auf, die „rübergeholt“ wird. Andererseits spielen sich Tragödien ab. Christa S., eine in West-Berlin verheiratete Pfarrerstochter, besucht kurz vor dem 13. August mit ihrem gerade drei Wochen alten Baby ihre Eltern in Pankow. Aus der einen Woche, die sie bleiben will, werden anderthalb Jahre. Der Ost-Ausweis, den sie noch hat, wird ihr zum Verhängnis. Man erklärt sie und das Kind zu DDR-Bürgern, Ausreise unmöglich. Solche Familiendramen gibt es zuhauf. Verhandlungen laufen über das Rote Kreuz.

Die Wunden, die die Mauer reißt, vernarben schwer. Einander nahestehende Ost- und West-Berliner können anfangs nur auf Umwegen Kontakt halten. Herzzerreißende Briefe gehen hin und her, aber die Staatssicherheit liest mit, und viele im Osten haben Westkontakt- Verbot. Ost-Rentner, die bald zu Besuch in den Westen dürfen, leisten unschätzbare Dienste als Briefträger. Der Kalte Krieg geht weiter, die Lage West-Berlins bleibt unsicher. Die Stadt ist klein geworden, ständig stößt man sich die Nase an der Mauer und kommt sich vor wie amputiert. Berlin-Reisende sind an den Kontrollpunkten Schikanen ausgesetzt, oft stehen die Ampeln auf Rot. Wenn Ferien beginnen, reicht der Stau auf der Avus vom Funkturm bis Dreilinden.

Die Mauer steht zudem jeder Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung im Wege. Die Industrie wandert ohnehin seit den 50er Jahren aus dem krisengeschüttelten West-Berlin ab. Manchen verunsicherten Berliner zieht es ebenfalls ins sichere Westdeutschland mit höheren Gehältern. Doch anders als nach dem Chruschtschow-Ultimatum 1958 halten sich die Fortzüge in Grenzen.

Die erste Passierschein-Regelung gibt Hoffnung. Über Weihnachten und Neujahr 1963/64 besuchen rund 700 000 West-Berliner 1,2 Millionen Mal Angehörige in Ost-Berlin, ein überwältigendes Ereignis. Es ist der Auftakt zu Brandts Entspannungspolitik, die zu relativer Sicherheit in West-Berlin führen wird.

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