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Berlin: Wann haben Sie sich denn entschieden?

Der Wähler, das unbekannte Wesen: Wann trifft er seine Wahl? Ein Feldforschungsbericht

Von David Ensikat

Irrsinnig viele Leute, heißt es, entscheiden sich erst kurz vorm Kreuzeln, wem sie ihre Stimme geben. Darum der ganze Wahlkampf, darum die supersichere Siegesgewissheit aller Kandidaten bis zum letzten Fernsehauftritt vor der 18-Uhr-Prognose.

Also stellen wir uns doch mal vors Wahllokal und fragen nach: In welcher letzten Minute haben Sie sich entschieden?

„Ähm, weiß nich’, also eigentlich wähl’ ich ja immer dasselbe.“ Der 50-jährige Graugelockte, der in Begleitung seines Dackels wählen war, sagt in jedem Satz „weiß nich’“ und hat doch, seit er mehr als die Kandidaten der Nationalen Front wählen darf, immer dasselbe gewählt: SPD. „Na, weiß nich’, weil die doch das meiste für die untersten Schichten tun“, sagt er. Er selbst arbeitet im Öffentlichen Dienst, so viel ist klar, und bevor er noch sagen kann, ob er sich vorstellen kann, irgendwann mal anders zu wählen, zieht ihn sein Dackel weg.

Da! Da ist einer, der sieht irgendwie volatiler aus – Volatilität sagen die Wahlforscher zur Bereitschaft, mal so zu wählen und mal ganz anders. Der ist ein bisschen jünger, und er macht nicht den Eindruck, als sei Stetigkeit sein Lebensmotto. Ah, ja, vor zwei Wochen hat er sich erst entschieden. CDU will er wählen. Der Mann ist 39, hat mal Tankwart gelernt, aber das ist ja kein Beruf mehr, hat bis vor einem dreiviertel Jahr bei der BSR reine gemacht und ist jetzt arbeitslos. Vor zwei Wochen habe ihm das sehr gefallen, was der Stoiber zum Gesundheitssystem gesagt hat, sagt er. „Also dass das ja nicht geht, dass da einer, der Sozialhilfe kriegt, besser dran ist als ein Arbeitnehmer.“ Das war der Punkt, als er sich für die CDU entschieden hat. Eigentlich hätte er aber lieber weiter rechts gewählt, Republikaner oder so, aber da gebe es keine richtigen Kandidaten. 1998 hat er der SPD seine Stimme gegeben. Der SPD? „Ja, ja, aber die können’s ja nun nicht, nicht?“

Und hier, eine PDS-Wählerin: Die Dame ist 80, sagt auf die Frage, was sie früher gearbeitet habe, nur geheimnisvoll: „Staatsnah“, und sie sagt, sie hätte ihr Leben lang PDS gewählt. Wie bitte? „Na zuerst, also ’45, KPD, dann SED und dann eben PDS. Kommt ja auch gar nichts anderes in Frage, nicht wahr!“ Als der Gysi zurückgetreten ist, da hat sie überlegt, ob die Wählerei überhaupt noch einen Sinn habe, aber ihr Sohn hat sie überzeugt, dass sie wählen müsse. „Schon wegen dem Stoiber.“ Also hat sie gewählt, und wen – na, das steht ja schon immer fest. Schon immer.

Fragen wir mal die da, ein Paar aus Schöneberg, Mitte 40, sie hat ebenso kurze Haare wie er. In ihren praktisch-unauffälligen Regensachen kommen sie doch recht mobil daher. Und sie haben keinen starren „Ich-weiß-schon-lange-Bescheid-Blick“, sie lächeln freundlich. Grün haben sie gewählt. Doch, oh weh: wie immer. Seit es die Grünen gibt jedenfalls. Da ist die Wahlentscheidung also vor fast 20 Jahren gefallen? Ja, für die Zweitstimme jedenfalls. Bei der Erststimme ist das anders: „Da muss man ja taktisch wählen.“ Weil die grüne Kandidatin in Tempelhof-Schöneberg keine Chance hat, haben sie dem von der SPD ihre Stimmen gegeben. Das immerhin war eine einigermaßen kurzfristige Entscheidung.

Und wen brauchen wir jetzt noch? Richtig – einen für die FDP. Einen pensionierten Lehrer haben wir gefunden, einen, der seine Wahlentscheidung gerne mit den Worten von Theodor Heuss begründet: „Maß und Mitte halten“. Darum müsse es schließlich gehen in der Politik. Und dann erzählt er noch viel von den historischen Erfahrungen, die Theodor Heuss vor dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat.

Ehrlich, wir haben noch viel mehr Leute befragt. Keiner hat sich am Sonntag entschieden, keiner am Sonnabend. Das mit der Kurzfristentscheidung muss eine Legende sein, Wunschdenken derer, die vom Wahlkampf nicht genug bekommen können. Oder eine schnöde Ausrede der Wahlforscher, die an ihrer Prognose so lange feilen müssen, bis die Wahl gelaufen ist.

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