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Was macht die Familie?: Kämpfen und küssen

Wie eine Mutterdie Stadt erleben kann.

Ich tue es heimlich. Ich muss es heimlich tun, denn offen geht es nicht mehr. Jedes einzelne Mal will gut vorbereitet sein. Ich stelle mich also zum Beispiel hinter einen Türrahmen und warte. Wenn er dann vorbeikommt, nichts ahnend, singend, tirilierend, schieße ich aus meinem Hinterhalt hervor, packe ihn und tue es: Ich küsse ihn. Auf den Nacken oder auf die Haare, durchaus gefühlvoll, aber eben gegen seinen Willen. Denn das Kind, bald zehn Jahre alt, will um Himmels willen nicht mehr geküsst werden. Es ist ja schließlich kein Baby mehr! Stimmt ja. Aber doch noch so süß!

Die Jungs haben in den Ferien täglich miteinander asiatische Kampftechniken trainiert, denn sie sind Manga-Fans und können Stunden mit Comics und Videos von „Dragonball“ verbringen. Darin geht es um die Abenteuer des Jungen Son-Goku, der einen Affenschwanz besitzt und die Technik des „Kamehame-Ha“ trainiert – alle im Körper des Kämpfers verborgene Energie wird dabei auf einmal freigesetzt und Wumm!!! Diese Kampftechnik setzt der Kleine jetzt erbarmungslos gegen mich ein, seine liebende Mutter, die hin und wieder einen klitzekleinen Kuss loswerden möchte. Ein gezielter Tritt, ein Schlag aufs Nasenbein! Mir brummt der Schädel, ich habe blaue Flecken. Offenbar verdiene ich es nicht besser, denn ich nerve meine Kinder rund um die Uhr. Weil unsere Sommerferien an der amerikanischen Ostküste und in New York so toll waren, hatte ich zum Beispiel die Hoffnung, ich würde die Jungs künftig auch zum Sightseeing in Berlin motivieren können. War das nicht schön, diese leuchtenden Augen auf dem Empire State Building, das Staunen über die Kung-Fu-Trainer in einem Park in Chinatown!

Letzten Sonntag wollte ich die zwei zum Mauerpark locken. Das ist wie der Central Park, prahlte ich, lauter junge Leute und fast alle reden Englisch! Der Kleine zeigte sich gegen diesen Plan ebenso widerständig wie gegen meine Kuss-Attacken. „Wann wirst du das endlich verstehen?“, fragte er erbost. „Für mich ist Berlin etwas ganz anderes als New York.“ Klar. Nur Babys, die sich noch knutschen lassen, finden Berlin interessant. Dorothee Nolte

Im Mauerpark gibt es außer Flohmarkt und Karaoke auch Spielplatz, Tiergehege und Kletterfelsen. Ist aber alles uninteressant.

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