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Was macht die Familie?: Zeitung machen

Wie eine Mutter die Stadt erleben kann.

Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Als mein Jüngster ankündigte, er werde eine Klassenzeitung herausbringen, dachte ich, das sei eine Absichtserklärung wie: „Ich erfinde ein Auto, das auch fliegen kann.“ Denn die Wahrheit ist, dass das Kind weder gerne liest noch gerne schreibt, es ignoriert beharrlich die Tagesspiegel-Kinderseite und liest im Kindermagazin des „Spiegel“ vornehmlich die Witze.

Als Erstes, sagte der Zehnjährige, wolle er ein Interview mit dem neu gewählten Klassensprecher führen. Na gut! Ich lieh ihm meinen Fotoapparat und erwartete, dass nichts oder etwas Harmloses dabei herauskommen würde.

Und dann das! Ich komme nach Hause und finde drei manierlich layoutete DIN-A-4-Seiten vor. Die eine gefüllt mit Witzen (aus dem „Spiegel“ abgeschrieben), die letzte mit Wettervorhersagen (dem i Pad entnommen), vor allem aber eine sensationelle, eine umwerfende, eine umstürzlerische Titelseite.

Darauf prangt ein großes Foto des neuen Klassensprechers mit Basecap: Er streckt dem Fotografen ein wutverzerrtes Gesicht und gleich zwei Stinkefinger entgegen. Die Schlagzeile unter dem Schockerbild lautet: „PHILIPP ABWÄHLEN!“ Und es folgt ein flammender Artikel, der glasklar darlegt, dass Philipp für das Amt des Klassensprechers nicht geeignet ist, weil er zusammen mit einem Freund andere Kinder angegriffen hat, darunter einen Zweitklässler. „Sie sind brutal und rücksichtslos rangegangen“, schreiben mein Sohn und sein Chefredakteurskollege Linus. „Es hat sich erwiesen, dass Philipp ein schlechter Klassensprecher ist, denn sein Wahlversprechen ist eine Lüge.“

Sein Wahlversprechen? Ja, erklärte das Kind erbittert, Philipp habe versprochen, er werde im Falle seiner Wahl für Mülltrennung und mehr Ordnung im Klassenraum sorgen sowie Streit schlichten. „Die Wahl sollte ja richtig politisch sein. Wir wollten den Klassensprecher als Bürgermeister benutzen, er sollte uns regieren!“ Stattdessen laufe der Amtsinhaber rum und greife kleinere Kinder an. Auch auf die Interviewanfrage habe er aggressiv reagiert: „Wir haben ihn höflich mit Sie angesprochen – wie fühlen Sie sich als Klassensprecher, was wollen Sie in der Klasse verändern? – , aber er hat nur gebrüllt, sein Wahlversprechen sei: Mehr Krieg!“

Ich schwankte zwischen meiner Begeisterung für die Zeitung und Bedenken, den normalerweise netten Philipp auf diese Weise an den Pranger zu stellen. Die Lehrerin entschied im Sinne der Pädagogik und nicht im Sinne der Pressefreiheit. Sie sagte, Philipp müsse eine zweite Chance bekommen, und nahm die Zeitungen an sich, bevor die Chefredakteure sie verteilen konnten. Am Tag drauf gingen die Streithähne wieder friedlich miteinander zum Badminton. Der journalistische Ehrgeiz meines Sohnes aber ist vorerst gebrochen. Eine Zeitung zu machen, ist eben fast so schwierig wie ein Auto zu erfinden, das fliegen kann.Dorothee Nolte

Der Wahlkampf ist eine wunderbare Gelegenheit, mit Kindern über Politik, Parteien und Wahlversprechen zu reden. Alle unter 18, die auch wählen möchten, können ihre Stimme am 13. September bei der U18-Bundestagswahl abgeben. (www.U18.org)

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