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Berlin: Wege aus der Isolation

Elf Thesen für eine bessere Integrationspolitik in Berlin Von Heinz Buschkowsky

Wir alle haben geglaubt, Integration sei ein Naturgesetz und vollziehe sich von allein. Aus einer ethnischen Vielfalt werde sich eine neue multikulturelle Gesellschaft entwickeln, in der alle vorhandenen Einzelkulturen aufgehen und es zur Schöpfung eines neuen gemeinsamen kulturellen Leitbildes kommt. Dieser sozialromantische Traum hat im richtigen Leben nicht stattgefunden. Die Ethnien grenzen sich stärker denn je voneinander ab, die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität prägt das Erziehungsverhalten in Migrantenfamilien stärker denn je, die Bevölkerung in den Stadtquartieren mit hohem Migrantenanteil sortiert sich ethnisch, und viele Migranten orientieren sich wieder rückwärts an tradierten Werten und Rollen.

Pate einer solchen Entwicklung ist in einem erheblichen Maße auch die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation von Migrantenfamilien. Sie sind überproportional von Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Kinderreichtum betroffen und zwangsläufig auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Der Anteil der Transferleistungen am Neuköllner Bezirkshaushalt beträgt mit 370 Millionen Euro 60 Prozent, der Anteil für Investitionen und Unterhaltung der Straßen, Gebäude und Grünanlagen drei Prozent.

In Berlin findet bisher eine leitbildorientierte und zieldefinierte Integrationspolitik nicht statt. Fast in Form einer beobachtenden Pädagogik nehmen wir die Entwicklung in einzelnen Stadtregionen zur Kenntnis. Welche sichtbare und vor Ort praktisch erlebbare Politik war jeweils nach der Veröffentlichung eines Sozialstrukturatlas’ zu verzeichnen? Zu welchen konkreten Ergebnissen führten die mit großem Medienrummel zelebrierten Innenstadtgespräche? Die Menschen in den Quartieren haben nichts davon gemerkt. Die Lebensbedingungen haben sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. Wenn gerade die sozial stabilen Elemente als Korsettstangen des Gesamtgefüges wegbrechen, dann ist das Segregation, soziale Entmischung. Zurück bleiben vom Wohlstand der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelte, bildungsferne Schichten.

Die weitere Entwicklung in derartigen Stadtregionen ist immer gleich. Der Bezirk Neukölln kann hier keine Exklusivität reklamieren. Er ist nur das Beispiel und der Beleg für die Beschreibung des Ist-Zustandes. 70 Prozent aller Schulabgänger in Neukölln-Nord haben keinen oder nur den geringsten Abschluss. Dies reicht in unserer heutigen Berufswelt aber nicht aus. Insofern kann der verheerende Wert von nur fünf Prozent aller Migrantenjugendlichen in einem Ausbildungsverhältnis nicht wirklich überraschen. Menschen, die jedoch nicht in der Lage sind, die Erfüllung ihrer Wünsche durch ihrer eigenen Hände Arbeit zu realisieren, fühlen sich subjektiv von der Gesellschaft ausgestoßen. Sie sind anfällig für Versprechungen des leichten und schnellen Geldes aus dem kriminellen Milieu und für religiöse Eiferer und Fundamentalisten unter der Überschrift „Komm zu uns, bei uns bist du wer!“

Aus meiner Sicht müssen wir eine offensive Integrationspolitik betreiben, die als primäre Zielgruppe die Kinder und Jugendlichen umfasst und die Überschrift „Bildung ist Integration“ trägt. Wir müssen die jungen Menschen für die Werte unserer Gesellschaft begeistern. Mit dem Gefühl der Teilhabe an der Gesamtgesellschaft lösen sich die Bindungen an die Parallelgesellschaft. Der Ansatz des PDS-Vorsitzenden Liebich, Förderprogramme in den Kiezen zu konzentrieren, wo die Probleme am größten sind, und dass Umverteilung das Gebot einer solidarischen sozialen Stadt ist, zeigt den richtigen Weg. Ganz konkrete praktische Maßnahmen hierfür sind beispielsweise:

1. Das Gebot unserer Verfassung nach Wertgleichheit der Lebensverhältnisse in der Stadt muss endlich konsequent Eingang in die praktische Sach- und Finanzpolitik des Landes finden.

2. Die identifizierten Segregationsgebiete Berlins müssen konsequent und vollständig ins Quartiersmanagement (QM) einbezogen werden. Dies bedeutet eine Erhöhung der Zahl, wobei der Richtwert bei durchschnittlich 15 000 Einwohnern liegen sollte. Das Quartiersmanagement liefert bisher als einziges Instrument messbare Fortschritte bei der Sozialisation von Stadtregionen.

3. In den QM-Gebieten sind Kindertagesstätten in ihrer Bedeutung als schulvoraussetzende Einrichtungen neu zu definieren. Die Elternbeiträge sind abzuschaffen und lediglich ein Entgelt für die Beköstigung zu erheben. Nur so kann der finanzorientierten und das Kindeswohl vernachlässigenden Sichtweise erziehungsüberforderter Eltern begegnet werden.

4. Eltern, die Transferleistungen beziehen, ist das Essengeld für den Kita-Besuch von der Alimentation direkt abzuziehen. Die eine solche Handhabung ermöglichende Rechtsnorm muss geschaffen werden.

5. Wir müssen die heutige Praxis, dass der Schuleintritt des Kindes Anlass zum Fortzug von sozial stabilen Familien ist, ins Gegenteil verkehren. Trotz aller Unzulänglichkeiten im Alltagsleben in einem QM-Gebiet muss die Schule der Grund zum Verbleiben sein: „Nirgendwo wird mein Kind besser ausgebildet als hier.“ Hierfür benötigen wir nicht neue Lehrerkollegien. Die in diesen Gebieten tätigen Pädagogen arbeiten engagiert und aufopferungsvoll als Anwalt der Kinder, aber die Rahmenbedingungen werden der kaum lösbaren Aufgabe nicht gerecht. Die Klassenfrequenz im QM-Gebieten darf nur halb so groß sein wie in den anderen Regionen. Das heißt Umverteilung von Lehrerstellen. Auch bei den Sachmitteln ist so zu verfahren.

6. Die Abschaffung der Förderklassen ab 2006 in den 1. und 2. Klassen ist in QM-Gebieten rückgängig zu machen. Die neue Form der Schulanfangsphase über drei Jahrgänge ist für benachteiligte Kinder nicht zielführend.

7. Die Bezirke mit QM-Gebieten müssen zweckgebunden mit ausreichend Mitteln für die Volkshochschulen ausgestattet werden, damit sie in der Lage sind, den Bedarf an Sprachkursen zu decken.

8. Wir müssen Programme einer kommunalen Beschäftigungsförderung speziell für die sozial belasteten Gebiete entwickeln. Ohne die Chance auf einen legalen Gelderwerb und ohne einen bewusstseinsbildenden Tagesablauf werden alle Bemühungen insbesondere bei jungen Menschen erfolglos bleiben.

9. Der Delinquenz und der Verwahrlosung des öffentlichen Raums muss konsequent die Stirn geboten werden. Mit der Gründung der Ordnungsämter ist ein richtiger und wichtiger Schritt in diese Richtung getan.

Bei der Jugenddelinquenz muss dem Grundsatz „Die Strafe folgt auf dem Fuß“ noch stärker Raum gegeben werden. Gerade jugendliche Intensivtäter dürfen nicht noch zu Helden dadurch werden, dass sie sich ihrer Taten öffentlich brüsten können, ohne dass für ihr Umfeld eine strafrechtliche Reaktion erkennbar ist. Gerade bei der Jugendkriminalität muss das Prinzip „Null Toleranz“ gelten.

10. Die Zwangsverheiratung und die Unterdrückung und Ausbeutung der Frau gerade in Migrantenfamilien muss gesellschaftlich geächtet und strafbewehrt sein. Nach Schätzungen von Migrantenorganisationen und Terre des Femmes werden auch heute noch zirka 50 bis 60 Prozent aller Ehen von türkischen und arabischen Männern mit aus dem Herkunftsland zugeführten Frauen geschlossen. Diese Frauen haben naturgemäß keine sozialen Kontakte über die Familie hinaus und sollen sie auch nicht haben. Die Sprachverpflichtung nach dem Zuwanderungsgesetz wird hier hoffentlich zu einer Veränderung führen.

11. Die Übergabe der Einbürgerungsurkunden zur Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft darf nicht mehr auf einen bürokratischen Akt reduziert bleiben, sondern muss im Rahmen einer angemessenen und würdigen Feier geschehen. Bestehende Vorbilder in einigen Bezirken müssen allgemeiner Standard werden.

Nichts ist so teuer wie ein nicht in die Gesellschaft integrierter Mensch. Er erfordert ein Leben lang den Reparaturbetrieb der Gemeinschaft, die für die Folgekosten vielfältiger Art einstehen muss.

Zu diesen Leistungen einer integrationsbereiten Gesellschaft gehört aber zwingend die Gegenleistung des Integrationswillens der Migranten. Das beginnt mit dem Erlernen der deutschen Sprache und muss sich bei der Erziehung der Kinder fortsetzen. Der mitteleuropäische Wertekanon einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft gilt auch für Migranten. Der SPD-Vorsitzende Müntefering formuliert es auf den Punkt: „Wer im Lande leben will, muss sich zur Verfassung bekennen und sie praktizieren.“

Der Autor ist Sozialdemokrat und Bürgermeister des Bezirks Neukölln.

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