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Berlin: Weihnachtsmann der ersten Stunde

Frank Wiebe ist Langzeitstudent. Im Nebenberuf kommt der 77-Jährige zur Bescherung und besucht Heiligabend bis zu 18 Familien.

Der alte Mann mit dichtem, grauem Rauschebart fällt auf im Hörsaal der Technischen Universität. „Der sieht ja aus wie ein Weihnachtsmann“, flüstert eine Studentin ihrem Nachbarn zu. Frank Wiebe (77) sieht nicht nur so aus. Sein ganzes Studentenleben lang hat Wiebe den Weihnachtsmann gespielt – und er studiert noch immer: Psychologie, Medizin und Philosophie, bis vor einem halben Jahr war er noch eingeschrieben für den Studiengang Elektrotechnik. Einen richtigen Beruf hat Wiebe auch gelernt. Er war Informatik-Ingenieur bei einem großen Hersteller für Computer und machte sich später mit einem eigenen Ingenieurbüro selbstständig. Schon damals hat er jede freie Minute seines Feierabends, Wochenende und Urlaub im Hörsaal verbracht.

Auf Titel oder Scheine kam es Wiebe nie an. „Mir hat mal ein Dozent vorgeschlagen, dass ich meinen Doktor machen soll. Doch was kann ich damit anfangen?“, sagt er. Die Gesellschaft war ihm wichtiger. „Ich brauche viele Leute um mich herum, damit ich mich nicht einsam fühle.“ Auch Gleichaltrige trifft Wiebe heute häufiger an der Uni. Die Zahl der Über-50-jährigen Gasthörer an den Berliner Hochschulen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verfünffacht. Derzeit sind mehr als 1200 Senioren als zahlende Gasthörer eingeschrieben. „Viele Dozenten finden es gut, wenn sich in ihren Vorlesungen auch mal ältere, erfahrene Zuhörer zu Wort melden“, sagt Wiebe.

Bis zu seinem 76. Lebensjahr hat der fünffache Großvater sogar noch in einer Studenten-WG gelebt. Seit eineinhalb Jahren lebt er allein in seiner Wohnung in Charlottenburg. „Die jungen Leute waren froh, dass sie endlich von ihren Eltern weg waren und wollten nicht mehr mit so einem alten Zausel wie mir unter einem Dach leben.“ Eigentlich wollte er mit 75 mit seinem Weihnachtsmann-Job aufhören. „Genau ein Jahr hab ich das ausgehalten. Dann hab ich mit 76 wieder angefangen, weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen ist“, sagt er.

500 Weihnachtsmänner sind derzeit für das Studentenwerk im Einsatz. Wiebe selbst ist seit 35 Jahren dabei. Die ersten Aufträge kommen bereits im August rein. „Für junge Studenten ist es eine willkommene Finanzspritze an Heiligabend, wenn sie nicht unbedingt den Weihnachtsbraten von Mutti genießen wollen“, sagt Wiebe. Er sehe das Fest inzwischen ernüchtert. Seine Kinder hätten eigene Familien und seine Lebensgefährtin wohne 350 Kilometer entfernt in Bielefeld. Die Frauen wechselten in seinem Leben wie die Studiengänge. Vier Mal war er verheiratet und hätte auch gern ein fünftes Mal „Ja gesagt“. „Aber meine Freundin traut sich nicht“, sagt er und lacht. Sie kennen sich seit 15 Jahren, und leben lieber getrennt. „Ich schmeiße nicht gern etwas weg und sie ist sehr ordentlich. Das führt zu Konflikten“, verrät Wiebe und zupft an seinem Bart.

Jeder Weihnachtsmann-Bewerber wird vor seinem Dienst geprüft und muss in einem Rollenspiel zeigen, ob er mit Kindern umgehen kann. Auch die Bartfrage muss vorher geklärt sein: Frank Wiebe lässt bereits im Sommer die ersten grauen Stoppeln sprießen und rasiert die langen Haare Ende Dezember wieder ab. Doch auch aufgeklebte weiße Kunstbärte sind erlaubt. „Wichtig ist, dass der Weihnachtsmann bei den Kindern einen guten Eindruck hinterlässt und sie sich nicht vor ihm fürchten“, sagt Wiebe. Bis zu 18 Familien besucht er zur Bescherung und leistet sich dabei einen besonderen Luxus. „Ich habe einen Fahrer eingestellt. Er bringt mich in meinem Auto von Tür zu Tür“, sagt Wiebe. Der braune Jutesack ist schon auf dem Dachgepäckträger seines Schlittens festgeschnallt. Es ist ein Sport-Cabriolet. Kerstin Hense

Weitere Informationen im Internet: www.studentenwerk-berlin.de

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