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Berlin: Werner Jaeger(Ein Kapitalist, der sehr gut backen und schlecht rechnen konnte.)

Als er seine Heimat Richtung Krieg verließ, lag seine Heimat rechts der Oder. In Sonnenburg bei Küstrin war er aufgewachsen, jüngstes von zwölf Kindern, Konditor hatte er gelernt, gut vorstellbar, dass er die Konditorei der Eltern einmal übernehmen würde.

Von David Ensikat

Als er seine Heimat Richtung Krieg verließ, lag seine Heimat rechts der Oder. In Sonnenburg bei Küstrin war er aufgewachsen, jüngstes von zwölf Kindern, Konditor hatte er gelernt, gut vorstellbar, dass er die Konditorei der Eltern einmal übernehmen würde.

Als er aus dem Krieg nach Hause kam, gab es kein Zuhause mehr. Da war jetzt Polen. In Frankfurt an der Oder betrat er deutschen Boden, die Oder war jetzt Grenzfluss. Wo seine Frau, die Mutter, die Geschwister waren, konnte ihm niemand sagen.

Ein Zufall, wie er hin und wieder in schlecht ausgedachten Geschichten und immer wieder im Leben vorkommt: Es war der Sommer ’45, Werner Jaeger wollte ins Ruhrgebiet weiterreisen, es hieß, es gebe Arbeit dort. Er machte Zwischenstopp in Berlin, saß am Nollendorfplatz vor einer Kneipe, da lief an eben dieser Kneipe eine seiner Schwestern vorbei. Sie erkannte den Bruder nicht, abgemagert wie er war. Aber sie sah den Ringfinger seiner linken Hand. Der war seit seiner Kindheit steif. „Wie bei Werner“, murmelte sie, in Gedanken beim vermeintlich toten Bruder. Der hörte das, drehte sich um und sah die Schwester und fiel ihr um den Hals.

Sofort machten sich die beiden auf den Weg nach Werneuchen, 35 Kilometer zu Fuß. Dort, auf einem Bauernhof war ein Teil der Familie Jaeger untergekommen. Werner Jaegers Frau, Marie, nicht. Die war tot, deportiert nach Sibirien und dort gestorben.

Viele, die erlebt hatten, was Werner Jaeger erlebt hatte, das Sterben im Krieg, in der Gefangenschaft, den Verlust der Heimat und der Frau, sind wahnsinnig geworden daran oder sonderbar oder zumindest hart. Er nicht.

Selbstverständlich hat er verdrängt, hat nicht gesprochen über das, was war. Er hat gearbeitet, tags auf dem Feld des Bauern, der ihn aufgenommen hatte, abends in der Küche. Da hat er gebacken, am liebsten Torten für die Rotarmisten, mit einem roten Stern aus Marzipan – dafür gab es Extrabutter. Die Arbeit war der Sinn des Lebens, die Rettung für Leib und Seele.

Thea hat er 1947 kennen gelernt, eine Neulehrerin und, viel wichtiger, eine Frau aus der verlorenen Heimat. Sie hatte im Februar 1945 im selben Internierungslager gesessen wie Marie, Werner Jaegers Frau. Auch Thea sollte damals nach Sibirien. Ein katholischer Rotarmist rettete sie.

Jetzt wollte Werner Thea heiraten, so schnell wie möglich. Es war die Zeit der Neuanfänge. Kein Neuanfang jedoch ohne ein Ende, das zuvor besiegelt wurde. „Bis dass der Tod euch scheidet“, heißt es. Es war ein langer, absurder Kampf, Maries Tod beurkunden zu lassen von einer Verwaltung, die unter russischer Aufsicht stand. Am 6. März 1948 gelang es, am 29. März war Hochzeit, im Juni kam die erste Tochter zur Welt.

Hessenwinkel am unteren Ende Ost-Berlins. 1955 war dort der Bäcker gestorben und seine Bäckerei zu haben. Werner Jaeger war jetzt 42, höchste Zeit, das Leben zu beginnen, wie er es haben wollte: Ein Uhr nachts aufstehen, die Backöfen mit Holz anheizen, Teig bereiten, backen. Immer wieder backen, immer wieder Brötchen, Brot und Kuchen. Jeden Tag, außer sonntags und montags. Feierabend zwölf Uhr mittags.

Werner Jaeger war nicht nur Bäcker in der DDR, er war auch Kapitalist. Er hatte Angestellte, Gesellen und Bäcker, die mit ihm in der Backstube standen, wenn auch erst ab drei Uhr nachts, und Verkäuferinnen, die neben seiner Frau im Laden standen, wenn auch erst ab sechs. Nicht, dass Werner Jaeger reich geworden wäre, davor bewahrte ihn schon das Fünf-Pfennig-pro-Brötchen-Gesetz. Und für einen Kapitalisten konnte er erstaunlich schlecht rechnen. Das überließ er lieber seiner Frau, die hin und wieder seine Torten abwog. Dann ermahnte sie ihn, dass er zu viele teure Zutaten hineingebacken hatte. So teuer wie die Torten waren, durfte man sie gar nicht verkaufen.

Dennoch, es ging ihm gut. Er war dankbar für den Dank der Kunden. Die standen im Morgengrauen Schlange und kauften seine gehaltvollen Torten, die Brote und vor allem: die billigen und guten Brötchen. Sie waren froh, dass sie nicht die ebenso billigen doch nie frischen Konsumschrippen kaufen mussten.

Hessenwinkel ist eine ruhige und schöne Ecke, am See gelegen. In den repräsentativsten Häusern wohnten Professoren und Minister – allesamt Werner Jaegers Kunden. Da kam es vor, dass der Kapitalist mit der gestärkten Konditorenmütze auf dem stolzen Haupt vor seiner Bäckerei stand, ein schwarzer Dienst-Tatra rollte vorbei und aus dem Fenster reckte sich die Grußhand des Exponenten der Arbeiter- und Bauernmacht. Und schließlich zeichnete die Arbeiter- und Bauernmacht den Unternehmer mit dem Aktivisten-Abzeichen aus. Auf dessen Rückseite stand: „Auf sozialistische Art zu leben, erfordert auf sozialistische Art zu arbeiten“.

Hart hat er gearbeitet, das auf jeden Fall, bis in sein 65. Lebensjahr. Weil sich für seine Bäckerei kein privater Nachfolger fand, zog im Jahr 1978 tatsächlich der Sozialismus ein ins Bäckerhandwerk von Hessenwinkel. Die PGH war jetzt zuständig, die „Produktionsgenossenschaft des Handwerks“, die irgendwann die Brötchen nicht mehr frisch buk, weil sich das nicht rentierte. Man ließ jetzt Konsumschrippen liefern.

Nach dem Ende der DDR übernahm wieder ein Privatmann das Geschäft, diesmal aber einer mit vielen Läden. Diesen hier in Hessenwinkel, gleich unter Werner und Thea Jaegers Wohnung, machte er vor zehn Jahren dicht. Neben Aldi in Friedrichshagen ist jetzt der nächste „Backshop“.

Werner Jaeger buk bis zuletzt in seiner kleinen Extraküche Kuchen für die Familie. Zu Thea, seiner Frau, sagte er immer wieder ganz erstaunt: „Wie schön wir es doch haben!“ Bis dass sein Tod die beiden schied. David Ensikat

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