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Berlin: Wettrisiken

Das Wetten im Büro an der Ecke ist unerlaubtes Glücksspiel. Kriminell handeln Anbieter – und Kunden. Obendrein hat Spielsucht katastrophale Folgen

Dass Spielen und Wetten zur Manie werden kann, weiß manche Familie, wenn die Mäuse mit verheulten Augen aus dem Kühlschrank kommen, weil Vater mal wieder das Haushaltsgeld verzockt hat. Spiel- und Wettsucht dagegen sind leider nicht nur komisch. Die Risiken und Nebenwirkungen sind inzwischen weltweit so mit harten Fakten untermauert, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Sucht in ihre International Classification of Diseases and Health Related Problems (ICD) aufgenommen hat. Die aktuelle Liste nennt sie gemeinsam mit Kleptomanie, Pyromanie und Trichotillomanie, auf Deutsch: krankhaftes Haareausreißen. Allein in Deutschland gibt es 130 Selbsthilfegruppen für geschätzte 100 000 bis knapp 200 000 Spielsüchtige. Pro Jahr suchen mehr als 5000 Spiel- und Wettsüchtige eine Beratungsstelle auf – Tendenz rapide steigend.

Aber was hat das mit Kriminalität zu tun? Hier die Rechtslage. Unerlaubtes Glücksspiel ist kriminell. Die Paragrafen 284 bis 287 des Strafgesetzbuches (StGB) besagen: Nicht nur das Veranstalten und Bewerben unerlaubter Glücksspiele ist eine Straftat, sondern auch die Teilnahme selbst, und das gilt auch für Lotterien. Glücksspiel ist kriminogenes Terrain. Es kann Sucht erzeugen, Sucht kann Verschuldung und Beschaffungskriminalität nach sich ziehen.

Im Mai 2006 stand in Halle ein Angestellter der Stadtwerke vor Gericht, der über 900 000 Euro ertrickst, in Gmünd ein mit 200 000 Euro verschuldeter Lehrer, der Geld von Schülern gestohlen haben soll. Motiv beide Male: Spielsucht. Anfang 2006 wurde in Berlin ein junger Mann, Dauergast in Wettbüros, festgenommen, der serienmäßig Taxifahrer beraubt hat. Laut Statistik der ambulanten Therapiestellen für 2004 sind 80 Prozent der Spieler verschuldet, 15 Prozent hochgradig – fast zehnmal so viele wie Alkohol- und Opiatabhängige und mehr als doppelt so viele wie Kokain- und Psychopharmakasüchtige. Die weitaus meisten „Problemspieler“ zocken in Spielhöllen und Casinos. Die sind zumeist legal, so wie die Sportwetten des Lotto- und Toto-Blocks. Bestimmte Glücksspiele können unter strengen Auflagen lizenziert werden, aber das Monopol liegt beim Staat. Das soll dem Schutz des Spielers und der Allgemeinheit dienen. Die Idee dahinter ist protektionisch-pragmatisch: Menschen haben einen Spieltrieb, und damit der ihnen nicht zum Verhängnis wird, muss man ihn kanalisieren. Außerdem macht der Staat mit Glücksspiel keinen Profit, sondern schöpft fast alle Gewinne ab und fördert damit Gemeinnütziges wie Sport und Kultur.

Trotzdem nimmt seit einigen Jahren auch in Berlin die Zahl privater Wettbuden stark zu. Sie arbeiten, im Gegensatz zu Lotto und Toto, nach dem Buchmacher-Prinzip mit vorher festgelegten Quoten und Kombinationswetten. Das lockt Kunden weg, weshalb 1999 das Staatsmonopol um Oddset erweitert wurde. „Damals war das überschaubar“, sagt Holger Petukat vom Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO). „Die Läden haben oft schnell wieder zugemacht. Heute haben wir fast 330 Büros, zumeist ausländisch konzessionierte Anbieter. Von der kleinen 30-Quadratmeter-Bude mit Tresen und Computer, davor zwei Tische, vier Stühle und ein paar Aschenbecher, bis zum 250- Quadratmeter-Geschäft mit Flachbildschirmen an den Wänden.“ Petukats Abteilung IIA22/„Lotteriewesen“ ist zuständig für die Lizenz, die jeder haben muss, der in Berlin ein Spielgewerbe betreiben will. Genauer gesagt: wäre zuständig. Denn das Gewerbe ist nicht genehmigungsfähig. Dass die privaten Wettbüros nicht längst zu sind, liegt an einem bundesweiten juristischen Schwebezustand, dem das Bundesverfassungsgericht Ende März 2006 einen Balken eingezogen hat. Kernfrage war: Darf der Staat das Monopol behalten oder muss er den Markt für private Anbieter öffnen? Etwa wegen der Berufs- und Gewerbefreiheit oder der europäischen Gleichstellung. Antwort, genauso verknappt: Ja, er darf, aber nur wenn er den Schutzgedanken in den Mittelpunkt stellt, insbesondere die Suchtprävention. Dafür hat er Zeit bis Ende 2007. Bis dahin bleiben private Anbieter illegal.

Deshalb haben Petukats Lotterie-Spezialisten derzeit alle Hände voll zu tun. Das LABO verschickt dicke Briefe an sämtliche Berliner Buchmacher. Dort steht auf vier Seiten, dass und warum ihnen ihr Gewerbe untersagt wird, dass sie drei Wochen Zeit haben, es aufzugeben und sämtliche Widersprüche und Klagen zurückzunehmen haben, oder mit 25 000 Euro Zwangsgeld rechnen müssen.

Zur Begründung gehören weitere kriminelle Begleiterscheinungen: Sportwettbetrug und Spielmanipulation. „Wir wissen ja durch den Wettskandal, den wir hier hatten, aber auch andere in Europa, dass dahinter oft mafiaähnliche Strukturen stecken“, sagt Petukat.

Das LABO arbeitet eng zusammen mit dem Landeskriminalamt. Das LKA 25/ Gewerbeaußendienst hat letztes Jahr den „Fall Hoyzer“ aufgeklärt. Ein ganzes Kommissariat, das LKA 257, ist spezialisiert auf Sportwetten und deren kriminelle „Kollateralschäden“. Ein weites Deliktfeld von Rauschgift- über Betrugs- und Gewaltdelikte bis hin zu organisierter Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Wettbüros können Anlaufpunkte für Drogendeals sein. Große Mengen Bargeld wecken Begehrlichkeiten. Zumal wenn, ähnlich wie in gewissen Drogeriemärkten, an der Kasse eine einzelne Person sitzt, oder wenn der Betreiber nachts die Tageseinnahmen wegbringt. Das Geld wird zum größten Teil in irgendein Steuerparadies oder bis nach China geleitet, wo die Bosse sitzen, im Land bleiben nur Gewerbesteuer und Provisionen für die Statthalter. „Die sind sehr unterschiedlich“, sagt Kriminalhauptkommissar Wolfgang Strack, „je nach Vertragsgestaltung. Und die wird, wie wir festgestellt haben, immer ungünstiger, je mehr Wettbüros es gibt.“ Und je größer das Angebot von Internet-Wetten wird. „Das übertrifft jetzt schon die Wettbüros vor Ort.“ Im Internet sind die Manipulations- und Betrugsmöglichkeiten noch größer, digitale Buchmacher noch unerreichbarer. Aber auch die Anbieter aus Fleisch und Blut verschwinden auf Nimmerwiedersehen und prellen den kleinen Wetter, der ausnahmsweise mal gewonnen hat, um sein Geld. Wetten lässt sich prinzipiell auf alles, auf ihrerseits um die Wette rennende Tiere wie auf Spiele aller Art. Wer siegt, wer verliert? Bayern München gegen den 1.FC Köln, zum Beispiel. Ein Bayernsieg ist wahrscheinlich, also hat der eine geringe Quote, Sieg Köln eine hohe. Nur dass der Einsatz weg ist, wenn man die hohe riskiert und Köln eben nicht siegt. Deshalb sind Kombinationswetten beliebt: Zwei Erstligaspiele zu je 1,3 und eins in der Oberliga zu 6. Die Quoten werden multipliziert. Geht man auf Nummer Sicher und setzt bei den Erstligaspielen richtig auf die Favoriten, muss man beim Oberliga-Kick nur noch den Sieger richtig tippen, dann hat man etwa das Zehnfache des Einsatzes gewonnen. Mit Glück geht das. Oder durch Manipulationen. „Die gibt’s in der Regional- oder Oberliga“, sagt Gewerbehauptkommissar Gerd Damköhler. Da, wo Spieler und Schiedsrichter wenig verdienen und kein Fernsehen aufzeichnet, „wo das Kontrollsystem seitens der Verbände nicht so stark ist, dort setzt man gezielt an.“ Nicht der kleine Zocker mit seinem zweistelligen Euro-Einsatz. Aber wer Fünf- und Sechsstelliges einsetzt, um Sechs- und Siebenstelliges rauszuholen „und das sind keine aus der Luft gegriffenen Summen“, kann auch Schiedsrichter für Pfiffe oder Spieler für Eigentore bezahlen.

Wie viel häusliche Gewalt zu den Risiken und Nebenwirkungen von Spiel- und Wettsucht gehört, wie viel vom Schuldenberg deutscher Haushalte sie verursacht, wie viele Familien sie zerstört, wie viele Individuen in die Verelendung treibt – niemand weiß es. Die Praktiker von LABO und Kripo wissen sehr wohl, dass die Wettbüros in sozial schwachen Kiezen boomen. Leute mit sicherem Einkommen müssen nicht mit Fortuna flirten. Wer einen guten Job hat, muss nicht den Strohmann für illegale Läden machen in der Hoffnung, dass das Risiko minimal und der Gewinn satt ist. Spiel-Abhängigkeit hat viele Inhaltsstoffe. Womöglich haben die Verfassungsrichter deshalb dem Staat ebenfalls eine schallende Ohrfeige verpasst: „Du und deine monopolistischen Wettanbieter“, so könnte man ihr Urteil übersetzen, „ihr tut bei weitem nicht genug für Suchtprävention und Jugendschutz, eure Werbung ist geradezu kontraproduktiv. Wenn das nicht anders wird, könnte eure Legitimation weg sein.“ Stichtag: 31.Dezember 2007.

„Tja“, lacht Sabine Bätzing, „und so komme ich an Glücksspiel und Sportwetten!“ Ins Ressort der Bundesdrogenbeauftragten fällt Sucht aller Art, auch manche „stoffungebundene“. Wettkontrolle ist Ländersache. „Ich halt es für zwingend notwendig, das staatliche Wettmonopol beizubehalten, aber die Entscheidung müssen jetzt erst mal die Länder treffen: Ja, wir halten daran fest oder nein, wir lassen private Anbieter zu.“ Danach geht es an Konzepte. Die sollen aus einem Guss sein. Dass das in anderthalb Jahren zu schaffen ist, was seit Jahren gefordert wird, bezweifeln viele. Vielleicht ist bis dahin der Lottoladen mit Warnhinweisen gepflastert wie heute Zigarettenschachteln. Vielleicht gibt es eine gebührenfreie Beratungs-Hotline. Vielleicht sind alle Wettklitschen dicht. Ob das dem Verfassungsgericht bei der nächsten Feststellungsklage reicht? Große Internetanbieter wie betandwin oder wetten.de werden kaum klein beigeben – und an deren Werbe- oder Sponsorentopf hängen nicht nur Vereine, sondern auch private wie öffentlich-rechtliche Medien.

In der Zwischenzeit werden wir von der Zerschlagung der einen oder anderen Wettmafia lesen oder vom Versuch privater Wettanbieter, gerichtlich klären zu lassen, dass Sportwetten eigentlich gar keine Glücks-, sondern Geschicklichkeitsspiele sind. Für Experten beherrschbar. „Klar, man kann sich allumfassend informieren“, amüsiert sich KOK Strack, „wer bei Hertha gerade Magenkrämpfe hat und nicht gut spielt. Und dann kommt Wetter oder eine andere Aufstellung, aber das ist doch das Schöne am Fußball: Man weiß nie, wer gewinnt!“ Auch nicht als größter Experte aller Zeiten. Und dass Fußball ein Spiel ist, bei dem man nach frühestens neunzig Minuten weiß, wie es gelaufen ist, das ist vermutlich die einzige Beckenbauer-Deklaration, der er selbst auch nie widersprochen hat.

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