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Wie Berlin auf den Mauerfall zurückblickt: Betonköpfe gegen Bürgerrechtler

Bereits im Herbst 1988 zeigen sich die Vorboten für eine Wende in der DDR. Nur kann sie zu diesem Zeitpunkt noch niemand richtig erkennen. Die alte Machtriege versucht, sich gegen den Gorbatschow-Kurs abzuschotten. Gleichzeitig sind Rufe nach Veränderung unüberhörbar.

Eine dürre ADN-Meldung elektrisiert im November 1988 die DDR-Bürger: „Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift Sputnik von der Postzeitungsliste gestrichen worden.“ Sie enthalte „keine Beiträge zur Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte“. Gemeint sind kritische Artikel in der populären Sowjetzeitschrift über die Stalin-Ära. Zeitgleich verschwinden fünf sowjetische Filme aus den Kinos, die gerade erst DDR-Premiere hatten.

Die Abschottung der verknöcherten alten Machtriege vom Gorbatschow-Kurs, die im Verbot geistiger Kost aus dem Bruderland gipfelt, löst eine Protestwelle aus, bis hin zu Austritten aus der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und aus der SED. Lächerlich, sagen sich viele, absurd. In Leipzig lassen Demonstranten Luftballons mit der Aufschrift „Sputnik“ und den fünf Filmtiteln steigen, die allgegenwärtige Stasileute mit brennenden Zigaretten zum Platzen bringen.

„Wir hatten das Gefühl, es müsste was passieren, Reformen, freie Wahlen“

Seltsam, einerseits schwindet die Hoffnung auf Glasnost und Perestroika, die Angst vor einer härteren Linie der „Betonköpfe“ geht um. Andererseits sind die steigende Zahl der Ausreiseanträge, die unüberhörbaren Rufe nach Veränderung und selbstbewusster auftretende Bürgerrechtler Vorboten der Götterdämmerung, nur erkennt sie noch keiner. „So kann es nicht weitergehen!“ – „Hier geht alles den Bach runter!“ – „Hier kannst du bloß noch überwintern!“ Solche Sätze sind in aller Munde.

In ganz Berlin haben Menschen am Sonnabends des Mauerfalls vor 24 Jahren gedacht. An einer Andacht in der Kapelle der Versöhnung an der Mauergedenkstätte nahm auch der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit teil, im Anschluss entzündeten die Besucher Kerzen.
In ganz Berlin haben Menschen am Sonnabends des Mauerfalls vor 24 Jahren gedacht. An einer Andacht in der Kapelle der Versöhnung an der Mauergedenkstätte nahm auch der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit teil, im Anschluss entzündeten die Besucher Kerzen.

© dpa

Die Ärztin Sabine Bergmann-Pohl, 1990 Präsidentin der Volkskammer, erinnert sich, wie offen ihre Patienten plötzlich redeten. „Wir hatten das Gefühl, es müsste was passieren, Reformen, freie Wahlen“, sagt Christine Bergmann, später Berliner Senatorin und Bundesministerin. „In Polen und Ungarn tat sich was, in der Sowjetunion sowieso, wir kamen uns vor wie die letzten Trottel.“ Hoffnung habe sie nicht gehabt, „wir wussten, das Regime kann jederzeit zuschlagen“, sagt Bergmann.

Die Stasi will die Opposition ausbluten. Verhaften und unter Androhung hoher Strafen zur Ausreise in den Westen nötigen, ist die Devise. So geschieht es Anfang 1988 prominenten Ost-Berliner Bürgerrechtlern wie Bärbel Bohley, Stephan Krawczyk, Freya Klier, Vera Lengsfeld, Ralf Hirsch und anderen der gut 100 Festgenommenen, weil sie mit eigenen Transparenten zur offiziellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration gingen. Im Herbst stößt die Relegierung einiger Schüler der Carl-von-Ossietzky-Schule in Pankow wegen „antisozialistischen Verhaltens und verräterischer Gruppenbildung“, das heißt wegen kritischer Artikel in der Wandzeitung, auf Empörung.

Während es innen bröckelt, sonnt sich Erich Honecker in der äußeren Stabilität

Die meisten erfahren so etwas aus dem Westfernsehen. In den Ost-Medien ist nur von „staatsfeindlichen Handlungen“ die Rede, die „imperialistische Geheimdienste und mit ihnen im Bunde stehende antisozialistische Kräfte in der BRD und in Westberlin“ anzetteln, sprich West-Korrespondenten.

Während es innen bröckelt, sonnt sich Erich Honecker in der äußeren Stabilität der DDR, genießt seinen Staatsbesuch in Paris wie 1987 in Bonn, empfängt viele West-Besucher und streckt seine Fühler bis Washington aus, wo er auch gern Staatsgast wäre. Eberhard Diepgen trifft als Regierender Bürgermeister 1988 einen „sehr selbstbewussten“ Staats- und Parteichef, der die DDR als zehntgrößte Industrienation rühmt. Alarmierende Zahlen zur Wirtschafts- und Finanzlage der DDR kommen dagegen aus West-Berlin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

Der Verfall ist ja auch überall sichtbar. Selbst die FDJ-Zeitung Junge Welt warnt vor „ökonomischen und psychologischen Folgen der Versorgungsmängel“ und „Lieferrückstände“. Eine Kfz-Zeitschrift meldet, dass die 1974 bestellten Wartburgs und die 1977 bestellten Trabbis nunmehr ausgeliefert werden. In Gesprächen mit SED-Funktionären hören West-Politiker, es gehe alles irgendwie weiter, wie der damalige West-Berliner SPD-Chef Walter Momper bezeugt.

Gegen die Staatsmacht: Bärbel Bohley, Mitinitiatorin des „Neuen Forums“, und der Mitbegründer der DDR-Oppositionsgruppe, Molekularbiologe Jens Reich, bei einer Podiumsdiskussion in Ost-Berlin.
Gegen die Staatsmacht: Bärbel Bohley, Mitinitiatorin des „Neuen Forums“, und der Mitbegründer der DDR-Oppositionsgruppe, Molekularbiologe Jens Reich, bei einer Podiumsdiskussion in Ost-Berlin.

© picture-alliance / dpa

Wie sich Honecker irrte

Der Bundesregierung und dem Senat geht es in dieser Zeit um ein erträgliches Nebeneinander, Honecker um ein einträgliches, denn er braucht dringend Devisen. Mit Bonn wird der deutsch-deutsche Stromverbund samt Abzweig nach West-Berlin, mit dem Senat ein großer Gebietsaustausch zur Begradigung der Mauer geschlossen. Schon Kleinigkeiten wie neuerdings Tagesbesuche mit Übernachtung von West-Berlinern in Ost-Berlin gelten als Fortschritt in der Beziehung zur DDR. „Wir wollten die Insel Berlin zu einer schönen Halbinsel machen“, so Diepgen.

Noch denkt im Osten oder Westen keiner an den Fall der Mauer und die Einheit Deutschlands. „Also in der Langfristperspektive hoffte ich darauf, aber in den nächsten zehn Jahren mit Sicherheit: nein“, sagt Diepgen. Man habe auf Reformen nach Honeckers Ablösung in absehbarer Zeit gesetzt, „Mauerfall und Einheit waren ausgeblendet“, so Momper. Noch hält das erstarrte System aus Überwachung, Repression und Belobigung, das ohne Grenzabschottung nicht funktionieren würde.

„Die Mauer wird so lange bestehen bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben“, tönt Honecker im Januar 1989.

Ein Irrtum – in den Herbststürmen des Jahres fällt die DDR wie ein Kartenhaus zusammen.

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