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Berlin: Wie Flüchtlingskinder im Pankisi-Tal an Spenden kommen, die in Berlin gesammelt wurden

Dutzende Flüchtlingsmütter haben sich in die Warteschlange eingereiht, Kleinkinder an der Hand, Babys auf dem Arm. Unesco-Helferinnen haben aus Umzugskisten einen Kleider-Laden errichtet.

Dutzende Flüchtlingsmütter haben sich in die Warteschlange eingereiht, Kleinkinder an der Hand, Babys auf dem Arm. Unesco-Helferinnen haben aus Umzugskisten einen Kleider-Laden errichtet. Zwanzig Kartons stehen in Hufeisenform auf dem Lehmboden. Die erste in der Reihe bestellt: Eine Hose für den Dreijährigen, eine Jacke für das Baby, ein Paar Schuhe. Die "Verkäuferinnen" suchen die Ware zusammen. Nur die Kasse fehlt: Bezahlen muss niemand. Die Kleider sind Spenden der Hörer des Radiosenders 104.6 RTL in Berlin. "Helft den Flüchtlingskindern aus Tschetschenien" - zu dieser Aktion hatte der Sender gemeinsam mit dem Malteser Hilfsdienst aufgerufen.

"Wir haben uns erkundigt, was benötigt wird", sagt die Sprecherin der Malteser, Charlotte Hahner. Es antworteten der Caritas-Verband in der georgischen Hauptstadt Tiflis und der Botschafter des Souveränen Malteserordens in Georgien, Manfred Girtler: Warme Kleidung und Decken.

Fünf Tonnen kamen zusammen, verpackt in 275 Umzugskartons. Dazu 2000 Woll- und Steppdecken, die ein Unternehmer gespendet hatte. Eine Spedition wurde mit dem Transport nach Tiflis beauftragt. Zehn Tage später lagerten die Sachen in Stahlcontainern eines Caritas-Betriebes in der georgischen Hauptstadt. Zollabwicklung und Weiterfahrt ins gesperrte Pankisi-Tal im Grenzgebiet verliefen unproblematisch, weil der Malteserorden einen quasi-staatlichen Status genießt. Von Tiflis bis zur Provinzhauptstadt Akhmeta waren ein schwerer Laster und ein VW-Bus mit den deutschen Begleitern allein unterwegs. In Akhmeta stießen zwei Jeeps der Unesco hinzu und begleiteten den Transport ins Pankisi-Tal. In dem Dorf Duisi, wenige Kilometer vor der Grenze zu Tschetschenien, endete die Fahrt.

Fast die Hälfte der 5600 Flüchtlinge im Tal sind minderjährig, die übrigen Frauen und Greise. Die Männer blieben in Tschetschenien. Die meisten Flüchtlinge fanden in den Wohnungen der ansässigen Bevölkerung ein Obdach. Die Übrigen zogen in leerstehende und heruntergekommene öffentliche Gebäude. Die Nächte verbringen sie auf dem Boden. In fast allen Zimmern sind blaue Plastikplanen als Unterlage ausgelegt, mit dünnen Schaumstoffmatten etwas gepolstert. Schlaflager für meist sieben oder acht, manchmal zehn Personen in einem Zimmer.

Der 15 Jahre alte Adam ist ein typisches Kind der Kriegsgeneration. Er ist seit Jahren unterwegs: geboren in Grosny, während des ersten Tschetschenien-Krieges 1995 nach Kasachstan geflüchtet, dann in die zerstörte Heimat zurückgekehrt. Im Dezember war es wieder soweit: Das Haus, in dem er lebte, zerfiel unter russischen Bomben. Wie fast alle legte er den größten Teil des Weges nach Georgien zu Fuß zurück, durch die verschneiten Bergpässe bis nach Schatili auf der sicheren Seite. Eine Schule hat er schon seit Jahren nicht mehr besucht. Aber er gehört zu den Wenigen, die auch russisch sprechen. Gefragt, was er von den Russen hält, sagt er nur: "Ich mag sie nicht".

Er übersetzt, was die Kinder um ihn herum zu berichten wissen. "Wir haben die Flugzeuge gesehen. Unten fielen die Bomben heraus. Ganz in unserer Nähe explodierten sie". Für die Kinder gibt es Spielzeug: Stofftiere und Spielzeugautos. Die Verteilung läuft nicht ganz so diszipliniert wie die Kleiderausgabe an die Mütter. Die begehrtesten Schätze werden den Helfern aus den Händen gerissen. Ein paar Tränen fließen.

Den Weg ins georgische Pankisi-Tal haben die Flüchtlinge nicht ohne Bedacht gewählt. Hier lebt die Volksgruppe der Kisten, die vor 200 Jahren aus Tschetschenien zugewandert ist, aber den moslemischen Glauben und den tschetschenischen Dialekt niemals abgelegt hat. Die menschliche Zuwendung der 11 000 Kisten ist die eine Seite, ihre bittere Armut die andere. Während in Tiflis wenigstens gelegentlich der Strom funktioniert, gibt es im Pankisi-Tal erst gar keine Anschlüsse. Es gibt kein fließendes Wasser, keine Heizung, kein Gas oder Telefon. Die Unesco hat den meisten Familien Holzöfen aus Blech zur Verfügung gestellt. Die wärmen ein bisschen, verpesten aber die Schlafräume mit Qualm.

"Die Situation ist tragisch", sagt der UNO-Repräsentant in Georgien, Marco Borsotti. Damit meint er auch die Not der fast 300 000 Georgier, die während der Bürgerkriege in den Provinzen Süd-Ossetien und Abchasien Anfang der neunziger Jahre heimatlos wurden. "Georgien ist von der Instabilität des gesamten Kaukasus betroffen", sagt Borsotti.

Was das bedeutet, beschreibt der georgische Flüchtlingsminister Valeri Vashakidze so: "Wir haben nicht vergessen, daß auch tschetschenische Kämpfer an den Gräueln gegen die Georgier in Abchasien beteiligt waren. Wir können auch nicht ausschließen, daß unter den Flüchlingen einige Kämpfer sind. Aber wir wollen den Flüchtlingen die Hilfe nicht verweigern. Sie sind Opfer eines Genozids".

Vashakidze verschweigt nicht, daß er darauf achtet, die tschetschenischen Flüchtlinge weit entfernt von den Georgiern unterzubringen. Und er sagt: "Ich kann nicht verstehen, daß die Türkei und Aserbaidschan keine Tschetschenen aufnehmen". Gleichzeitig beklagt er den russischen Druck auf sein Land und fragt, warum Russland nicht damit beginne, die ersten Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zu lassen. "Sie sagen, sie hätten den Norden Tschetscheniens unter Kontrolle. Warum beginnen sie dann nicht mit der Repatriierung?" Die gewaltsame Ausweisung müsse aber niemand fürchten.

Für die nächsten Monate befürchtet Vashakidze eine Verschärfung der Situation. "Wenn die Schneeschmelze einsetzt, wird eine neue Welle aus Tschetschenien kommen. Aber wir haben jetzt schon keine Unterkünfte mehr."Der Autor ist Chefredakteur des Radiosenders 104.6 RTL.

Christoph Lemmer

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