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Wilde Schweine: Ansturm aufs Villenviertel

Wildschweine sind den Menschen ähnlich: Sie fühlen sich im Grünen wohl und haben es gerne bequem. Tausende Tiere leben inzwischen am Stadtrand.

Berlin / Falkensee - Die Spuren sind noch frisch. Eine ganze Rotte muss letzte Nacht hier gewesen sein, glaubt Matthias Eggert, Revierförster in Gatow. Die Wildschweine haben auf der Großen Badewiese an der Havel nach Engerlingen, Mäusen und Regenwürmern gesucht und dafür mit ihrem starken Rüssel große Stücke der Rasenfläche umgepflügt. „Vielleicht liegen die Sauen jetzt irgendwo da oben in der Böschung und schlafen“, sagt Eggert und nickt in Richtung Wohnsiedlung hinauf. Dann schaut er sich das Gelände in Ruhe noch mal an, denn später in der Dunkelheit will er wiederkommen. Mit seinem Jagdgewehr.

Berlin und seine Wildschweine, das ist ein Thema, das nicht erst seit zehn Jahren existiert. Schon seit jeher hat das Schwarzwild im stadtnahen Grün gelebt, und so manche Rotte war auch früher schon in Parks und Gärten unterwegs. Doch mittlerweile sind es – weder kennt man die genaue Zahl, noch weiß man den durch Wildschweine verursachten Gesamtschaden zu beziffern – mehrere tausend Tiere im Bezirk. Nicht in zentralen Bereichen wie Friedrichshain-Kreuzberg oder Mitte – fast nie verirrt sich ein Schwein hierher. Aber in allen grünen und waldnahen Ortsteilen wie Dahlem, Zehlendorf oder Lichterfelde fühlen sich die Tiere heimisch. Zurzeit erreichen die Forstämter viele Bürgerbeschwerden aus der Cité Foch und dem Steinbergpark in Reinickendorf, dem Schmargendorfer Messelpark sowie vom Friedhof In den Kisseln in Spandau, wo unter anderem Berlins bekanntester Tierpfleger Thomas Dörflein begraben liegt.

„Früher glaubte man, Wildschweine seien keine Kulturfolger. Heute wissen wir es besser“, sagt Marc Franusch vom Landesforstamt. Die Gründe sind vielfältig: Verstärkter Maisanbau, Vergrößerung der Populationen durch milde Winter, aber vor allem die Vorteile, die ein Leben in Menschennähe für den Allesfresser mit sich bringt: Komposthaufen in Gärten, Grillabfälle in den Parks, Müllcontainer hinter dem Schnellimbiss, gesprengte Rasenflächen und Beete in trockenen Sommern. Außerdem weniger frei laufende Hunde als im Wald, mehr Baumfrüchte als in den von Kiefern geprägten Wäldern rund um Berlin sowie Menschen, die ihre Garten- oder Bioabfälle im Wald abladen oder die Tiere direkt füttern. „Auch ohne diese Verlockungen hätten wir Wildtiere in Berlin, aber sie spitzen das Problem natürlich zu“, so Franusch. Man müsse aber lernen, mit Nachbarn wie Füchsen, Madern, Waschbären und Wildschweinen dauerhaft zu leben und diese Nachbarschaft so gut es geht zu organisieren.

So sind viele Eigenheimbesitzer erstaunt und mitunter auch erbost, wenn sie wegen ihres umgepflügten Gartens einen der 30 Berliner Stadtjäger bestellen – die anders als die 45 Berliner Förster und ihre rund 100 privaten Mitjäger auch in befriedeten Bezirken jagen dürfen – und der Stadtjäger anstelle seines Gewehrs bloß jede Menge Ratschläge hervorholt. Aus gutem Grund: Die Bejagung in Wohngebieten wird nur in Ausnahmefällen gestattet, um keine Menschenleben zu gefährden. Die Verantwortung, dass dies nicht geschieht, liegt wie bei den Förstern allein beim Stadtjäger. Prävention vor Aktion ist ihr Motto. Der wichtigste Ratschlag ist, das Grundstück mit einem stabilen, mindestens 1,50 Meter hohen Zaun zu umfrieden, der durch einen Sockel, tiefes Eingraben oder Wühlstangen im Boden gesichert ist. So werden die Tiere davon abgehalten, überhaupt erst in den Garten zu gelangen. Tägliches Sammeln von Fallobst und verschließbare Kompostboxen verhindert zusätzlich, dass die Tiere mit ihrem hervorragenden Geruchsvermögen angelockt werden.

Im Revier. Förster Matthias Eggert findet Wildscheine vor allem: schlau. Foto: Eggert
Im Revier. Förster Matthias Eggert findet Wildscheine vor allem: schlau. Foto: Eggert

© Georg Moritz

Förster Eggert geht nach seiner Visite an der Havel weiter auf Spurensuche, in den Geschichtspark Falkensee. Wo Jogger laufen, Menschen mit Kinderwagen spazierengehen und andere ihre Hunde ausführen, sieht die Wiese aus wie frisch mit einer Spitzhacke bearbeitet. Und auch hier mag die Rotte selbst am helllichten Tag nicht weit sein: Ein dichter Schilfgürtel wächst unten am Bachlauf. „Viele Berliner können sich nicht vorstellen, dass sie vielleicht täglich an Wildschweinen vorbeigehen“, sagt Eggert. Die nächste Station des 58-Jährigen ist eine Brache in Kladow. Zwischen einem Einkaufzentrum und einer Grundschule befindet sich hier inmitten vieler Sträucher, hohem Gras und rund um einen kleinen, von Schilf umwachsenen See eine wahre Wildschwein-Oase. Vorsichtig schleicht Eggert durch Dornengestrüpp und an kleinen, von den Schweinen ausgetretenen Pfaden vorbei. Vielleicht hat er hier Glück. Doch nein, im Unterholz ist in diesen Frühabendstunden nichts zu sehen. Nur der plattgedrückte Boden lässt erahnen, dass die Tiere hier schon des Öfteren gelegen haben. „Wildschweine sind sehr clever. Sie geben uns Jägern viele harte Nüsse zu knacken und kennen Pfade und Löcher in Zäunen manchmal besser als wir“, erzählt Eggert. Seit 40 Jahren ist er Förster, ein ruhiger Mensch, für den es wichtig ist, „dass das Tier den Schuss schon nicht mehr hört“. Keiner, der viel Freude am Schießen der Frischlinge und einjährigen Überläufer hat. „Leider gibt es keine andere Möglichkeit, um den Zuwachs so gering wie möglich zu halten“, so Eggert. Weder Fallen noch die Pille würden eine sinnvolle Alternative darstellen. In manchen Monaten hat der Familienvater eine 60- bis 100-Stunden-Woche, tagsüber fährt er die neu gemeldeten Stellen ab, nachts kommt er wieder und legt sich auf die Lauer oder wartet im Wald stundenlang in einem Ansitz, sein Gewehr neben sich.

„Wir Menschen müssen begreifen, dass wir viel dazu beitragen können, wie das Nebeneinander von Wildschwein und Mensch gestaltet ist“, sagt Eggert. Gefährlich sei es normalerweise nie, lasse man den Tieren genug Raum zum Rückzug. Doch es gibt Fälle, wo der Förster nur den Kopf schütteln kann über das fahrlässige Provozieren von Gefahrensituationen: Wenn zwei Frauen täglich in einem Park mehrere Wildschweine aus ihren Handtaschen füttern, zum Beispiel. Und sich dann wundern, wenn die Rotte irgendwann nicht mehr abwartet, bis die Handtaschen offen sind. „Wildschweine sind eben sehr intelligente Tiere“, sagt Eggert. Und trotz des ernsten, mahnenden Tonfalls klingt das fast ein bisschen stolz.

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