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Keineswegs so harmlos, wie sie aussehen: In Berlin werden in einem Forschungsprojekt die Lebensgewohnheiten von Wildschweinen im Stadtgebiet ermittelt.

© dpa

Wilde Tiere in Berlin: Forschungsprojekt soll Wildschwein-Spuren verfolgen

Sie sind die ungeliebten Besucher der Stadtrandbewohner. Aber was treibt Keiler & Co. in die Siedlungen? Das Forschungsprojekt „Wildschweine in der Stadt“ soll das ergründen – zum Wohl von Tier und Mensch.

Milena Stillfried zählt schon gar nicht mehr, wie viele Nächte sie mit Förstern im Wald verbracht hat. Auf jeden Fall mehr als zuvor gedacht. Denn die Berliner Wildschweine sind noch schlauer als erwartet: „Dass sie einen so an der Nase herumführen, hätte ich nicht gedacht“, sagt die 30-Jährige, als sie in ihrem neben dem Tierpark Berlin gelegenen Büro von ihrer ganz speziellen Jagd berichtet.

Seit gut zwei Jahren betreut sie als Doktorandin am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) das hier bisher einmalige Forschungsprojekt „Wildschweine in der Stadt“. Es soll klären, ob und wie sich Tiere ans urbane Leben anpassen: wo sie fressen, wo sie ruhen, was sie stört, und wie man sich am besten mit ihnen arrangiert. Fragen, die vor allem in den Außenbezirken naheliegen, wo umgegrabener Rasen, Schrecksekunden beim Autofahren durch den Wald und spontane Umwege beim Anblick eines Rudels zum Leben dazugehören.

Also sollten einige Schweine mit Sendern bestückt werden. Dazu musste man sie erst mal fangen. Als Fallen dienen Metallkäfige – mitten im Wald mit offener Falltür und täglich frischem Mais. Interessant, fanden die Wildschweine. Aber suspekt. Und dann noch Menschen in Riechweite, bei denen es sich definitiv nicht um die immer gleichen Jogger im Revier handelt. Höchst verdächtig. Also Abstand halten.

Mit den Peilsendern können die Routen der Wildschweine verfolgt werden.
Mit den Peilsendern können die Routen der Wildschweine verfolgt werden.

© IWZ, Tsp

Halsbänder mit Peilsender - aber nur für erwachsene Tiere

Nur die Frischlinge nahmen gern vom Mais; Milena Stillfried hat auf ihrem Laptop jede Menge Fotos, auf denen sie in den offenen Käfigen ein- und aus gehen. Aber sie hat es nicht auf die Frischlinge abgesehen, sondern auf ausgewachsene Tiere. Denn die mit Akku, GPS-Sender, Handyfunkkarte und Bewegungssensoren ausgestatteten Kunststoffhalsbänder sind schwer und können nicht mitwachsen, sondern müssen per Fernsteuerung gelöst werden, wenn sie zu eng werden.

Zwar kennen die ins Forschungsprojekt involvierten Förster aus Berlin und dem Umland die Lieblingsorte ihrer Tiere recht genau, aber automatische Fallen dürfen nur im dünn besiedelten Umland verwendet werden. In den belebten Berliner Wäldern müssen sie vom Forscher oder Förster direkt per Schnur ausgelöst werden. Sonst säße womöglich immer mal ein Hund oder ein Kind darin.

Forschung unter tierärztlicher Überwachung

Wenn endlich ein einigermaßen ausgewachsenes Schwein gefangen ist – „ein alter Keiler würde nie in die Falle gehen“, sagt Stillfried –, muss ein Tierarzt zur Stelle sein zwecks Betäubung. Dann wird gemessen, gewogen und nach einem Gesundheitscheck per Kotprobe das besenderte Schwein freigelassen.

Zwölf Exemplare waren bisher für die Forschung „auf der Datenautobahn“ unterwegs, zwei sind es aktuell. Milena Stillfried zeigt Satellitenbilder, auf denen gelbe Striche in wildem Zickzack Wälder und Wohngebiete verbinden: Bewegungsprofile. Ein Tier bei Potsdam war erst sehr ortstreu und wich dann plötzlich in Richtung Fahrland aus. „Das war nach einer Jagd“, sagt Stillfried. Ein anderes Bild zeigt, wie die Zickzacklinien vom Grunewald durch die Straßen von Dahlem führen: das Bewegungsprofil einer Bache aus einer Woche. Was man nicht sieht, sind die mutmaßlich unerfreulichen Spuren, die ihr Rudel auf der Suche nach Blumenzwiebeln und nahrhaften Gartenabfällen hinterlassen haben dürfte.

Mit Peilsendern ausgestattet, sollen die Wildschweine in Berlin Informationen über ihre urbanen Lebensgewohnheiten liefern.
Mit Peilsendern ausgestattet, sollen die Wildschweine in Berlin Informationen über ihre urbanen Lebensgewohnheiten liefern.

© Milena Stillfried

Das Fütterungsverbot ist unbedingt gerechtfertigt

Die meisten Beschwerden über Schäden durch Wildschweine kommen von Bewohnern des Berliner Südwestens. „Viele ziehen an den Stadtrand, wollen Natur haben, und dann beklagen sie sich, wenn die Natur zu ihnen in den Garten kommt“, sagt die Wildschweinversteherin. Dabei sei die Population dort nicht besonders groß. Auch Derk Ehlert, Wildtierexperte beim Senat, wähnt die Wildschweine relativ gleichmäßig über die großen Berliner Waldgebiete Grunewald, Köpenick, Tegel sowie das nahe Umland verteilt. Den Bestand schätzt Ehlert auf 3000 bis 4000 Tiere – mit akut zunehmender Tendenz, weil seit Mitte Februar die Frischlinge geboren werden, deren Überlebensrate relativ hoch sein dürfte, wenn das Wetter mild bleibt.

Zahlen zum Wildschweinbestand sind am ehesten anhand der Jagderfolge zu ermitteln. Klar ist: Würden sie nicht gejagt, wären diese unbeliebten Haustiere des Stadtrands binnen kürzester Zeit eine Plage.

Milena Stillfried weiß von Würfen mit acht bis zehn Frischlingen, bei gutem Nahrungsangebot zweimal pro Jahr. Die weiblichen Nachkommen können nach weniger als einem Jahr bereits selbst die ersten drei bis vier Jungen bekommen. „Ohne Wolf haben sie auch keine natürlichen Feinde“, sagt Stillfried. Immerhin habe sich die Lage in der Stadt entspannt, seit sich das strikte und aus Expertensicht unbedingt gerechtfertigte Fütterungsverbot herumgesprochen habe.

Landwildschweine mobilder als Stadtschweine

Von den zwölf bisher besenderten Schweinen sind nach Auskunft von Stillfried vier erlegt und eins überfahren worden. Drei wurden ferngesteuert von ihrem Halsband befreit, zwei haben es verloren. Während die Positionsdaten ständig übermittelt werden, können die Aktivitäten der Tiere erst aus den ausgedienten Halsbändern ausgelesen werden. Als Wissenschaftlerin knausert Stillfried mit Erkenntnissen, solange das Projekt noch läuft. Ihre Stelle wird vom IZW finanziert und von der Stiftung Naturschutz sowie der National-Geographic-Gesellschaft gefördert. Derk Ehlert lobt das Projekt als „großartig für Berlin, weil es Informationen liefert, von denen wir sehr profitieren können“. Die könnten bei der Aufstellung von Wildwechsel-Schildern ebenso helfen wie beim Bau von Zäunen.

Wildschwein-Forscherin Milena Stillfried
Wildschwein-Forscherin Milena Stillfried

© Milena Stillfried

Schon verraten werden darf, dass Landschweine mobiler sind, weil sie sich vermutlich bei der Nahrungssuche mehr anstrengen müssen als ihre Artgenossen in der Stadt. Die schlafen gerne mal am Straßenrand – und weichen auch nicht gleich aus, wenn Spaziergänger ihr Revier durchqueren. Eine schlechte Nachricht für ängstliche Stadtmenschen? Nein. „Wildschweine greifen nicht an“, sagt Stillfried. Sie mögen nur keine Überraschungen, weshalb man frühzeitig auf sich aufmerksam machen und notfalls selbst den Rückzug antreten sollte, nach dem Motto: Der Klügere gibt nach. Wobei, wie gesagt, die Intelligenz von Wildschweinen nicht unterschätzt werden sollte.

Parallel zum Forschungsprojekt des IZW werden Wildschweinsichtungen in Berlin online erfasst: unter www.portal-beee.de kann jeder seine Beobachtung detailliert melden. Weitere Infos zum Verhalten gegenüber den Wildtieren in der Stadt gibt es hier sowie auf der Seite der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: www.stadtentwicklung.berlin.de/forsten/wildtiere

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