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Berlin: Willy Köstler (Geb. 1944)

Durch den Hund kam er mit vielen ins Gespräch

Am Ende waren es Zettel, aufgehängt rund um den Bayerischen Platz: in der Apotheke, beim Imbiss, im Reisebüro. Sein Name und ein Foto standen drauf und der Termin für seine Beerdigung. Zettel, die der Nachbarschaft verkünden sollten: Haltet inne, der Willy ist tot.

Willy? Welcher Willy?

Kanntest du den Willy nicht? Der ging hier jeden Tag seine Runden. Das war der große Mann, der so freundlich war. Der hatte immer seinen Hund dabei.

Ach, stimmt, der Willy. Der mit dem Dackel. Aber wie hieß der?

Paule. Das war so ein dicker Rauhaardackel. Auch sehr freundlich. Die beiden passten gut zusammen.

Willy hat doch immer Flaschen gesammelt. Ich hatte mich schon gewundert, dass ich ihn gar nicht mehr gesehen habe. Gibt es jemanden, der ihn näher gekannt hat?

In der Apotheke: Ja, Willy und sein Dackel Paule kamen jeden Montag, Mittwoch und Freitag zu uns, bestimmt seit zwölf Jahren. Tür auf, Kopf runter, rein, Kopf wieder hoch. Der war mindestens einsneunzig groß. Bei uns machte er immer den Sportreporter. Wer gegen wen gespielt, gewonnen oder verloren hatte. Zwei Flachbildschirme habe er zu Hause angeschlossen und schaue die Fußballspiele auch gleichzeitig. Das technische Zeug, auch die Receiver, hatte er von der Straße. „Was die Leute alles wegschmeißen“, hat er oft gesagt. Sogar volle Wein- und Sektkisten hat er gefunden, die hat er dann verkauft. Willy hatte ja kaum Geld, nur eine kleine Rente, ein paar Hunderter. Aber zum Amt wolle er nicht, lieber bringe er Flaschen weg, mache die Stadt sauber.

Willy war ja auch frühverrentet. Warum, das weiß ich nicht. Er war mal Kraftfahrer. Einmal wollte er jemandem helfen, der eine Panne hatte. Da hat sein Chef gesagt, keine Zeit, fahr weiter, sonst kannst du dir einen neuen Job suchen. Willy hat trotzdem geholfen und sich dann eine neue Stelle gesucht. Am Ende fand er es schrecklich, es ging um jede Minute, er spürte diesen irren Zeitdruck.

Das Besondere an ihm? Willy war so höflich, so herzenshöflich, ein wirklich guter Mensch. Hat nie geschimpft, nie gejammert. „Wenn jeder einen Streitpunkt hat, wo kommen wir denn da hin?“, hat er gesagt. Eine markante Erscheinung war er. Gepflegt. Gut gekleidet. Blazer, Hemd. Er roch immer gut, ein herber Männerduft, den er da auflegte. Früher ging er zu der Friseurin um die Ecke. Als die zumachte, schnitt er sich die Haare eben selber. „Wie sieht’s aus? Alles gerade?“, hat er dann gefragt. Wir haben ihm unsere Pfandflaschen gegeben, zu Weihnachten hat er eine Tüte von uns bekommen oder mal eine Hose, einen Pullover. Lieber nahm er Geschenke als Geld. Die kamen ja von Herzen.

Die Amaryllen waren seine Leidenschaft. Die züchtete er, und wenn die Zwiebel gerade erblühte, verschenkte er sie in einem kleinen Topf. Am Ende ist er einfach vor unserer Apotheke umgekippt. Lag da, war tot. Das war schrecklich. Ich vermisse ihn sehr. Der Willy gehört hier dazu und jetzt ist er nicht mehr da.

Im Reisebüro: Jeden Tag um zwölf war er bei uns. Wir waren die erste Station auf seiner Runde, auf der Suche nach Flaschen, auf der Suche nach Gesellschaft. Hat „Hallo“ gesagt, hat erzählt, selten über die Vergangenheit. Er hatte drei Ehefrauen, glaube ich, mehrere Adoptivkinder und auch eine leibliche Tochter, aber zu allen gab es keinen Kontakt mehr. Ursprünglich kam er aus Bayern, Franken, das war seine Heimat. Das hat man ihm manchmal auch angehört, wenn er mit seiner tiefen, lauten Stimme vom Wetter und von seinem Dackel erzählte.

Dieser Dackel, Paule. Die beiden waren ein Team, ein Paar. Beide Freundlich, beide immer gut gelaunt. Durch den Hund kam er mit vielen ins Gespräch. Angeleint hat er ihn nie. Musste er auch nicht. Paule kannte sich aus, lief mal vor, blieb mal zurück, schaute in der Brutzelstube nach, ob nicht ein bisschen Fleisch für ihn runterfällt, ging im Brunnen baden. 18 Jahre wurde der, doch am Ende ging es ihm schlecht, konnte auch nicht mehr runter. Die Leute rieten dem Willy, ihn einschläfern zu lassen. Doch Willy sagte: „Meinen Paule umbringen, das kann ich nicht.“

Dann starb erst der Paule, schlief in den Armen von Willy ein. Vier Wochen später kippte der Willy um. Ende Februar war das. Ach, Mensch. Wir haben seine Beerdigung organisiert. Die Zettel aufgehängt. Zwölf Leute kamen. Sie haben sich erinnert, von ihm erzählt, es war überraschend, wer alles den Willy kannte.

Aber ohne den Willy ist es nicht dasselbe. Er fehlt am Bayerischen Platz.

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