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Berlin: Wilmersdorfer Winter Berliner Verbrechen: Die Krimi-Autorin Pieke Biermann erzählt wahre Fälle

Die Feuerwehrleute waren nicht besonders aufgeregt: Unfall in der Wohnung, ein Einsatz wie jeder andere. Was sie dann sahen, können sie nicht mehr vergessen.

Es ist der 588. von allen, allen Einsätzen, die die Berliner Feuerwehr an diesem Tag zu fahren hat. Die Männer von der Feuerwache Steglitz werden am 5. Januar 2002 um 18 Uhr 42 alarmiert mit dem Stichwort UiW: „Unglücksfall in Wohnung“. Der Rettungswagen ist gerade unterwegs. Der Tag ist bisher recht ruhig, der Einsatz ist der dreizehnte in dieser Schicht, auch die zwölf vorhergehenden vor allem Rettungseinsätze. Kein Feuer, einmal „Öl auf Straße“. Zwei große rote Feuerwehrautos fahren raus in den dunklen kalten Winterabend – ein Löschhilfefahrzeug und eins mit Drehleiter. Insgesamt acht Mann.

Es ist ein Samstag. In der ruhigen kleinen Straße im Bezirk Wilmersdorf sind heute mehr Leute zu Hause als an Wochentagen. Nicht, dass sie nicht schon seit Wochen mitgekriegt hätten, dass der Briefkasten der jungen Frau mit dem kleinen Sohn nie geleert wird. Nicht, dass sie sich nicht mal gefragt hätten, warum man den kleinen Ali schon ewig nicht mehr gesehen hat und seine Mutter Natascha Tschaikowska nur einmal kurz im Dezember. Da hatte sie ihren Mantel mit dem Leopardenmuster geholt. Sicher, es roch etwas eigenartig in der Nähe der Parterrewohnung. Aber die Jalousien waren ja auch ewig zu. Und wann kommt man schon mal da vorbei? Morgens, auf dem Weg zur Arbeit. Und abends zurück.

Am frühen Abend wird es einer Mitbewohnerin zu viel. Sie ruft 110. Aus der Parterrewohnung rieche es, vielleicht sei da was passiert. Die Polizei ruft die Feuerwehr. UiW heißt oft Rettungseinsatz. Türen aufbrechen. „Das Stichwort fahren wir oft. Da ist man nicht besonders aufgeregt“, erzählt Holger Pittelkow. Der 33jährige Oberbrandmeister und ein Kollege sehen sich die Tür an. Sie hat zwei Schlösser und ist solide. Bevor man sowas aufbricht, prüft man Möglichkeiten, die keine Kosten verursachen. „Man sucht den einfachsten Weg, um da reinzukommen.“ Die Wohnung hat einen Balkon nach hinten, und an der Balkontür ist die Jalousie nicht runtergelassen. „Es ging da ziemlich problemlos rein, ich glaub, wir haben nicht mal’n Schaden gemacht“, erzählt Pittelkow. „Ja, und dann mussten wir uns erstmal orientieren.“

Er kann sich noch heute, knapp zwei Jahre später, an fast jedes Detail erinnern. Denn ab dem Moment, in dem er die Wohnung betritt, wird aus der unaufregenden Routine ein Einsatz, den er nicht mehr vergessen wird. Und das liegt weniger am Geruch – da ist er, sagt er, viel Schlimmeres gewöhnt. Aber als er im Schein der Taschenlampe durch weiche Hügel auf dem Boden stapft, tritt er aus Versehen auf einen Lichtschalter und stellt fest, dass er wohl wieder mal in einer „Messie-Wohnung“ steht. Das hier scheint das Wohnzimmer zu sein. Pittelkow guckt sich um und sieht in einer Vitrine Fotos. Eine junge Frau, ein junger Mann. Dann wird ja hier keine alte Frau liegen, denkt er halb erleichtert. Einsame alte Menschen, die unbemerkt vor sich hin sterben und erst auffallen, wenn ihr Geruch jemanden stört – sowas gibt’s öfter, gerade in Ausrückebereichen wie dem der Feuerwache Steglitz mit seiner hohen Rentnerquote. „Aber es kann ja irgendwas anderes sein, Drogen oder so, dass doch jemand umgekommen ist.“ Sie finden nichts. Auch nicht in dem anderen Zimmer, aus dem es etwas strenger riecht, als sie die Tür aufdrücken. „Hier ist auch niemand“, denken sie. „Eventuell ein totes Haustier. Von sowas sind wir ausgegangen.“ Bis der Kollege in das Zimmer hineingeht. Es ist überheizt, die Jalousien sind fest zu, es riecht jetzt extrem, und etwas sieht „komisch“ aus. Was er dann entdeckt, wird er später auch vor Gericht schildern. „Im ersten Moment dachte ich, da liegt – so – so’n alter Teddybär. Man hat ja nur den Kopf gesehen, die Haare.“ Jetzt gucken sie genauer hin. Der „Teddybär“ klemmt zwischen dem Bett und einem Sessel. Sie ziehen die Möbel auseinander. „Und dann hat man eine Schulter mit Arm erkennen können und – also, das war erschütternd. Da war uns klar, das hier ist irgendwie ein Verbrechen.“ Das tote Kleinkind ist mumifiziert. Die beiden Feuerwehrmänner informieren die Polizisten im Funkstreifenwagen und gehen nicht mehr zurück in die Wohnung. Es gibt hier nichts mehr zu retten, und sie wollen keine Spuren zerstören.

Gina Graichen steht in der Küche, als gegen sieben der Anruf kommt. „Wie das immer so ist samstagabends, wenn man Familie hat – ich war beim Kochen.“ Die 46-jährige Kriminalhauptkommissarin leitet eins der damals noch zwei Kommissariate des LKA 413 – Landeskriminalamt, Abteilung 413. Sie ist zuständig für nicht-sexuelle Gewaltdelikte gegen Kinder, die von Bezugspersonen begangen werden: Misshandlung, Vernachlässigung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, Kindesentziehung und Tötungsdelikte, wenn die kleinen Opfer unter drei Jahren alt sind. Gina Graichen packt ihre Sachen und fährt nach Wilmersdorf. Der Gestank schlägt ihr schon im Hausflur entgegen. „Dreck, Fäkalien und der typische Leichengeruch.“ In der Wohnung selbst „Berge von Müll, Kleidung, Papiere, flächendeckend. In der Küche ein Stapel benutzte Einwegwindeln. Wir haben später gezählt, es waren so 280.“ Das LKA 413 hat keine Bereitschaft rund um die Uhr wie die Mordkommissionen. Gina Graichen sichtet zunächst den Ort mit Kollegen von der Kripo-Sofortbearbeitung der örtlichen Direktion. Deutet der starke Geruch vielleicht darauf hin, dass auch die Leiche der Mutter in all dem Chaos liegt? „Man denkt ja immer erstmal an das Gute am Menschen“, sagt Gina Graichen mit leiser Ironie, „ein Unglücksfall oder dass die Mutter selbst Opfer geworden ist. Es wollte uns nicht in den Kopf: Wie kann man ein so kleines Kind in der Wohnung lassen und einfach abhauen?“

Aber es findet sich keine zweite Leiche. Es finden sich Pass und Versicherungschipkarte der Mutter. Sie bestellen eine Sofortobduktion für den nächsten Tag, und Gina Graichen lässt über den Lagedienst ihre Kollegen zusammentrommeln. Sonntag früh fangen sie an zu ermitteln, Nachbarn zu befragen, die Post aus dem überfüllten Briefkasten, den ihnen Pittelkow noch geöffnet hatte, zu sichten. Sie schreiben die Mutter zur Fahndung aus und geben keine Pressemitteilung ab. Natascha Tschaikowski wird Montagabend in der Wohnung eines Lovers festgenommen. Sie hatte, wie die Kripo vermutete, tatsächlich gewusst, dass ihr Kind tot ist, aber nicht, dass das inzwischen entdeckt wurde. Natascha Tschaikowski ist 21. Ali wurde zwei Jahre und ein paar Tage alt. Er war nicht ihr erster Sohn. Den hatte sie mit 17 geboren und - auf Druck ihrer Mutter und ihres Stiefvaters - zur Adoption freigegeben. Bei Ali sollte endlich alles anders werden. Sie würde beweisen, dass sie auch etwas schaffen, etwas durchhalten kann, was „die“ ihr nicht zutrauten. Sie war als kleines Mädchen aus einem Dorf im Ural in eine brandenburgische Kleinstadt verpflanzt worden. Ihre Mutter hatte einen deutschen Monteur kennen gelernt. Der arbeitete dort an der Leitung mit, über die russisches Erdgas in deutsche Haushalte kommen sollte. Und der nahm sie mit – und ihre eine Tochter. Die andere blieb beim Vater im Ural. Ein harter Schnitt für ein Kind. Dass die eigene Mutter sich anscheinend eher dem neuen Mann als ihrem Kind verpflichtet fühlt und der Stiefvater wohl lieber nur die Mutter gehabt hätte, macht die Sache noch härter. Mit 14 haut Natascha zum ersten Mal ab. Und sie „macht Ärger“ – klaut, lügt, kifft, hängt mit Punks rum, geht anschaffen. Lauter stumme Hilfeschreie vermutlich, die aber keiner hört. Irgendwann dealt sie und wird verurteilt. Sie geht weiter auf der Kurfürstenstraße anschaffen und lernt Ömer kennen. Er ist Alis Erzeuger. Ömer glaubt das nicht. Zur Geburt des Jungen zieht sie vorübergehend in ein Frauenhaus. Und allmählich lichtet sich das Dunkel, so scheint es. Verschiedene Ämter helfen ihr, eine eigene Existenz aufzubauen. Sie bekommt die Zweizimmerwohnung in dieser aufgeräumten Gegend. Der Häuserblock ist aus den 30er Jahren. Parterre und vier Etagen, unten dunkelrote Klinker, darüber gelbbrauner Putz, die Fenster schmucklos, aber breit. Alles etwas karg, aber praktisch - für heutige Augen die perfekte Mischung aus neuer Sachlichkeit und Nazisiedlung für kleine Beamte. Aber die Straße hat Bäume, man kann die Glocken von St.Marien hören, und der Häuserblock gegenüber ist ein ganz schöner Anblick. Nur dass Natascha Tschaikowski die Rollläden zur Straße hin oft tagelang nicht hochzieht. Sondern im Dunkeln auf dem Sofa vor sich hinbrütet, während der kleine Ali spielt. Aber das kriegt auch niemand mit. Das wird erst später beim Prozess deutlich.

Noch sieht alles gut aus. Alle ihre Betreuerinnen sehen eine liebevolle junge Mutter, wenn sie sie denn sehen. Und dass sie sie irgendwann nicht mehr sehen, kann doch auch heißen, dass sie’s geschafft hat. Irgendwann im Sommer muss dann etwas in Nataschas Vorsätzen abgerissen sein. Plötzlich erinnert Ali sie nur noch an den Kindsvater. Sie manövriert sich systematisch ins Chaos. Die Kripo findet offene Rechnungen von Versandhäusern, Mahnungen von Inkassobüros, die Kündigung wegen lange nicht mehr bezahlter Miete. Eines Novemberabends zieht Natascha Tschaikowski die Tür des Zimmers, in dem der Kleine friedlich schläft, zu und geht.

„Er hat Qualen ausgestanden, die wir uns nicht vorstellen können“, wird der Staatsanwalt sagen. Der medizinische Gutachter wird die Bauch- und Kopfschmerzen, die Krämpfe und das Erbrechen beschreiben, den gesamten typischen Todeskampf beim Verdursten, der mindestens drei Tage gedauert haben muss. Natascha Tschaikowski wird wegen besonders grausamen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihr Anwalt hält sie krankheitsbedingt für nicht voll schuldfähig. Die Revision läuft.

Holger Pittelkow und seine Kollegen reden lange über diesen Einsatz. Nicht nur in dieser Nacht, sondern immer wieder. „Was wir alle erstmal hatten, war – richtig Wut!“, sagt der gelernte Tischler, der seit genau fünfzehn Jahren Feuerwehrmann ist und „nie was anderes machen möchte.“ Aber dass sowas passieren kann, „in so einer Stadt, wo man überall Hilfe findet. Das muss doch nicht sein!“ Für die Kollegen, die selber Kinder haben, „war das alles noch’n bisschen gruseliger.“

Kinder hat auch Gina Graichen, zwei kleine Töchter. Sie macht die Arbeit in dem Bereich, den Kollegen früher verächtlich „Kinderkacke“ nannten, seit fast 20 Jahren. Das LKA 413 heißt heute LKA 125. Im Zuge der Reform wurden die zwei Kommissariate zu einem, aber die Arbeit ist nicht weniger geworden. Michael Havemann, der Leiter des Dezernats, zu dem auch Brandkriminalität und Vermisstenstelle gehören, nennt Zahlen: „ 2002 insgesamt etwa 1100 Delikte.“ Das sind rund drei Fälle pro Tag, bearbeitet von 14 Leuten. Etwa zehn davon Todesfälle. „Und zu diesem Jahr kann ich schon sagen, die Tendenz ist steigend, und zwar erheblich.“ Das hat auch damit zu tun, dass mehr Fälle entdeckt werden. Das neue Gewaltschutzgesetz bringt mit sich, dass Polizisten, die wegen häuslicher Gewalt gerufen werden, sich auch nach Kindern umsehen. „Aber die Gewaltbereitschaft hat auch wahnsinnig zugenommen“, sagt Gina Graichen. „Was wir hier auf den Tisch kriegen, ist nur die Spitze des Eisbergs.“ Verwahrloste ausgehungerte, dehydrierte Kinder, eingesperrt in ein „Kinderzimmer“, in dem sie ihre Notdurft verrichten und im Dunkeln vor sich hin vegetieren. Babys, die zu lebenslänglichen Pflegefällen „geschüttelt“ werden.

Es sind nicht nur die toten Kinder, die Polizisten und Feuerwehrleute nahe gehen. Es sind auch nicht nur völlig unfähige, überforderte Eltern. Warum müssen junge Leute, die aus zerrütteten Familien kommen, möglichst schnell selbst Familien gründen? „Weil’s überall propagiert wird: Familie ist schön. Das will ich auch haben!“, sagt Gina Graichen, die unzählige Täterinnen und Täter vernommen hat. „Obwohl sie in ihrem Alter überhaupt keine Ahnung haben, was das heißt: ein Kind großziehen“, ergänzt Kriminaloberrat Havemann, der auch Kinder hat. „Die wollen in die Disko, zur Love Parade. Aber ein Kind ist kein Plüschtier, das man auf die Couch setzt. Das schreit. Will versorgt werden.“ Gina Graichen möchte an manchen Tatorten am liebsten losheulen. Wenn ihr Kinderhändchen einfallen, die sich vertrauensvoll in ihre Hände schieben, und sie plötzlich weiß, was diese geschundenen Kinder alles nicht gehabt haben. „Wie gemein so ein Vertrauen ausgenutzt wurde. Diese Lieblosigkeit. Das innere Vereinsamen dieser Kinder.“ Wenn sie nach Einsätzen nachts nach Hause fährt, vorbei an „friedlichen Häuserfronten, wo Licht brennt, da überlege ich – was spielt sich da ab?“ Und steht am nächsten Morgen wieder auf und denkt: „Krieg dich ein, du hast jetzt Folgendes zu tun . . .“

Was alle aufbringt, sind die braven Leuten um jeden Fall herum. Nachbarn, Briefträger, auch Ämter oft. Sie kriegen alle immer etwas mit, aber kaum jemand unternimmt etwas. Für Havemann liegt es an der „Anonymität der Großstadt – jeder macht seins, keiner mischt sich ein, keiner will Ärger.“ Gina Graichen nennt es „Gefühlskälte“ und Mangel an Kontrolle. „Es wird nicht mal kontrolliert, ob Kinder zu ärztlichen Untersuchungen kommen. Wenn nicht – na, dann nicht! Aber kleine Kinder, die vernachlässigt und misshandelt werden, haben einen Knacks fürs Leben weg.“ Weshalb sie später ihre eigenen Kinder malträtieren. Weil niemand ihnen zur rechten Zeit geholfen hat.

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