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Lisa Holländer. Sie zögerte nicht ein bisschen, als sie um Hilfe für die jüdische Inge Deutschkron und deren Mutter gebeten wurde.

© "Privatbesitz/Reproduktion Gedenkstätte Deutscher Widerstand"

Wilmersdorferin rettete Jüdin vor den Nazis: "Tante Lisa kannte keine Angst"

Als handle es sich um die Einladung zu einem Tee, so nahm Lisa Holländer die Jüdin Inge Deutschkron und deren Mutter in ihrer Wohnung auf und versteckte sie vor den Nazis. Bis zu einer verheerenden Januarnacht 1944.

Berlin, das war Inge Deutschkrons Heimat bis 1946. Und ist es Jahrzehnte später wieder geworden. Doch wäre der Schriftstellerin und Autorin im Dritten Reich nicht eine Wilmersdorferin begegnet, sie würde heute wohl kaum einige Straßen entfernt von dem Haus leben, in dem sie gemeinsam mit ihrer Mutter versteckt wurde. Vielleicht würde sie überhaupt nicht mehr leben. Denn als Jüdin wurde sie, wie tausende andere Menschen, von den Nationalsozialisten verfolgt.

Die Wilmersdorferin, die einen großen Anteil an Inge und Ella Deutschkrons Überleben hat, hieß Lisa Holländer, war damals Mitte fünfzig und trug blonde Locken. Ohne das geringste Zögern nahm die Witwe Mutter und Tochter im Sommer 1943 in ihrer Wohnung auf. Als handle es sich um eine Einladung zum Tee, wird Deutschkron später in ihrem Buch schreiben. Dabei waren die beiden Frauen untergetauchte Jüdinnen, die sich den Deportationen, die ab Oktober 1941 in Berlin begannen, durch Flucht entzogen. Der Vater war noch 1939 mit einem teuren Visum nach England geflüchtet. Frau und Tochter mussten zurückbleiben. Seit Januar 1943 lebten sie unter falschen Namen, übernachteten bei verschiedenen Helfern. Zu denen gehört auch Lisa Holländer. Mit dem Verstecken sogenannter „U-Boote“, wie die Untergetauchten damals genannt wurden, riskierten alle Helfer ihr Leben. Doch das hält Lisa Holländer nicht ab, als ihr Schwager Walter Rieck für die Freunde um Hilfe bittet.

Im ersten Stock im Rosenhof versteckte sich Inge Deutschkron vor den Nazis

70 Jahre, nachdem sie bei Lisa Holländer Unterschlupf fand, steht Inge Deutschkron in diesen Tagen erneut im Rosenhof, einem vierstöckigen Mehrfamilienhaus in der Sächsischen Straße 26 in Wilmersdorf. Vom Rosenarrangement in der Mitte des Hofes, der dem Haus den Namen gab, ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Inge Deutschkron sieht sich auf dem Gelände um und bemerkt: „Früher war das Haus gepflegter.“ Sie schaut auf die Eingangstür, neben der heute eine Gedenktafel an die Helferin erinnert, und blickt nach oben in den ersten Stock, wo sie sich einst vor den Nazis versteckte. Die Erinnerungen an Lisa Holländer werden lebendig. Sie habe viel Wert auf ihr Äußeres gelegt, schöne Kleider und modische Hüte getragen. „Sie war eine sehr gütige Frau, die selbst viel im Leben durchgemacht hat“, beschreibt Deutschkron ihre Helferin: „Sie war eine unglaubliche Frau“ – und: „Tante Lisa sagte einmal zu uns, ‚Ich kenne keine Angst’“.

Dann erzählt sie, was sie über ihre Retterin weiß: Lisa Holländer, am Heiligabend 1890 geboren, hatte einen jüdischen Ehemann. Paul Holländer heiratet sie, obwohl sie ein uneheliches Kind hat – keine Selbstverständlichkeit zur damaligen Zeit. Im November 1938 wird der Exportkaufmann in ein KZ verschleppt. Seine Frau erhält lange kein Lebenszeichen von ihm. Eines Tages bekommt Lisa Holländer nur eine blutbefleckte Hose zugeschickt und die Auskunft, ihr Mann sei an Herzversagen gestorben. Dieser Verlust, der Mord an ihrem Mann, bestimmte von nun an ihr Handeln, meint Inge Deutschkron.

"Tante Lisa teilte alles mit uns"

In der Wilmersdorfer Wohnung leben die drei Frauen über mehrere Monate wie in einer Wohngemeinschaft beisammen. Inge nennt Lisa Holländer bald Tante Lisa. „Ich habe mich dort wahnsinnig wohl gefühlt, ich hatte mein eigenes kleines Kabuff, ein altes Dienstmädchenzimmer“, erinnert sich Deutschkron. Die genaue Zimmeranzahl der Wohnung weiß sie nicht mehr, doch es waren große Zimmer mit schönen Möbeln, auf der Etage im ersten Stock. Fast hätten sie und ihre Mutter ein normales Leben geführt. Beide arbeiteten unter dem falschen, arischen Namen „Richter“ und trugen so zum Unterhalt bei.

„Tante Lisa teilte alles mit uns“, sagt Deutschkron. „Und das in Zeiten, in denen alles Mangelware war.“ Doch ihre Wohltätigkeit hatte auch Grenzen – nämlich wenn die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt klingelte, um Spenden zu sammeln. „Tante Lisa schmiss ihnen energisch die Tür vor der Nase zu“, erinnert sich Deutschkron. Auch die Bitte ihrer Mutter, lieber den Anschein zu wahren, lehnt sie ab. „Die kriegen von mir keinen Pfennig und damit basta.“

In einer Januarnacht endet das Zusammenleben der Frauen abrupt.

Unvergessen. Bundespräsident Joachim Gauck traf sich gestern mit Inge Deutschkron im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in der Rosenthaler Straße. Der Kleinfabrikant hatte hier in der NS-Zeit jüdische Mitarbeiter versteckt – auch er war ein stiller Held.
Unvergessen. Bundespräsident Joachim Gauck traf sich gestern mit Inge Deutschkron im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in der Rosenthaler Straße. Der Kleinfabrikant hatte hier in der NS-Zeit jüdische Mitarbeiter versteckt – auch er war ein stiller Held.

© dpa

Das Zusammenleben der drei Frauen endete abrupt. „Wir hätten dort noch länger bleiben können, wäre da nicht die Nacht des 30. Januar 1944 gewesen“, sagt Deutschkron. In dieser Nacht gleicht die Sächsische Straße einem Flammenmeer, eine der von den Alliierten abgeworfenen Brandbomben hat auch das Haus Nummer 26 getroffen. Im Nieselregen stehen die drei Frauen auf der Straße, müssen mit ansehen, wie ihre Bleibe zerstört wird.

Doch statt Verzweiflung packt Inge Deutschkron Tatendrang: „Ich flirtete mit einem Hitlerjungen, denn ich hatte eine wahnsinnige Idee: Ich wollte für Tante Lisa Gegenstände aus ihrer Wohnung retten.“ Der uniformierte Hitlerjunge geht auf ihren Flirt ein und hilft. Zusammen mit der damals 21-jährigen Inge trägt er Kleinmöbel, darunter einen Sessel, aus dem brennenden Haus und stellt sie auf der Straße ab. „Angst hatte ich damals keine“, meint Deutschkron heute. Nur eine schüttelt immer wieder den Kopf: „Was soll ich mit den Sachen auf der Straße?“, fragte Lisa Holländer ihren jungen Schützling. Die Erinnerungen an das brennende Haus, die vielen Menschen auf der Straße und all die Stühle, Sessel und anderen Kleinmöbel, die mitten auf der Straße gesammelt wurden – sie wirken an diesem sonnigen Mittag unwirklich, beinahe gespenstisch. „Es war natürlich völlig irre etwas retten zu wollen“, meint Inge Deutschkron heute und weiß: „Tante Lisa hatte völlig recht, wir wussten gar nicht wohin mit den Möbeln.“ So sitzen die drei Frauen am Ende dieser Januarnacht mitten auf der Straße ohne zu wissen wohin. „Doch es war alles viel einfacher, weil Tante Lisa da war“, hält Inge Deutschkron fest. Bei der von Holländer verhassten NSV lassen sie sich am frühen Morgen mit Frühstück versorgen. Durch das Chaos sind die zwei „U-Boote“ einigermaßen sicher. Die Möbel bleiben zurück.

Auch nach dem Verlust der Wohnung hilft Lisa Holländer den beiden Jüdinnen

Am nächsten Morgen bringt der Schwager von Lisa Holländer die drei Frauen nach Potsdam. Ein alter Ziegenstall wird für die Deutschkrons ihr neues Quartier. Oft besucht sie dort Lisa Holländer, die anderswo unterkommt, die beiden aber weiter unterstützt. Sie unterstützt die beiden Frauen weiterhin, oft auch moralisch, denn das Untertauchen nagt vor allem an Inges Mutter. Die Tochter erinnert sich wie für ihre Mutter eines Tages der Punkt kam, an dem sie sagt: „Ich kann nicht mehr“. Es soll zu einer richtigen Debatte mit ihrer Helferin gekommen sein, die wohl fragte, ob sie verrückt sei. „Tante Lisa war auschlaggebend, dass meine Mutter durchhielt“,  sagt Deutschkron. „Sie war eine starke Frau und ich hatte sie sehr lieb.“ Manchmal habe sie, zwischen den beiden mütterlichen Bezugspersonen stehend, Angst gehabt, dass ihre Mutter eifersüchtig werden könnte. Lisa Holländer gibt den beiden Frauen kurz vor Kriegsende den Tipp, sich unter die Flüchtlinge aus dem Osten zu mischen.

Ohne Lisa Holländer, so steht fest, hätten Inge Deutschkron und ihre Mutter das Dritte Reich nicht überlebt. Sie ist eine von vielen stillen Helden, durch die in Berlin insgesamt 1700 Untergetauchte den Holocaust überlebten; in ganz Deutschland waren es etwa 5000. Forscher schätzen, dass eine untergetauchte Person oft mehr als zehn Helfer brauchte – sei es die Hilfe mit einem Versteck, falschen Ausweispapieren oder mit Lebensmitteln.

Die Freundschaft der drei Frauen überdauert Krieg und Auswanderung

Die Freundschaft zu ihrer Retterin besteht für die Deutschkrons natürlich auch nach dem Kriegsende fort. Sie wandern 1946 nach England aus und schreiben regelmäßig Briefe an Lisa Holländer. Wenn Inge Deutschkron nach Berlin kommt besucht sie ihre Helferin. „Ein freudiges Wiedersehen und ein trauriger Abschied“ sei es jedes Mal gewesen.

Im Jahr 1971 wird Holländer auf Vorschlag von Inge Deutschkron von der jüdischen Gedenkstätte in Yad Vashem in Israel als Gerechte unter den Völkern geehrt, so wie schon zuvor Oskar Schindler – und bis heute 24 811 Menschen, 525 davon aus Deutschland.

Sie stirbt im Alter von 90 Jahren in Berlin. Seit November 2005 ziert eine Gedenktafel das ehemalige Wohnhaus von Lisa Holländer. Auf der weißen Porzellantafel ist in blauer Schrift zu lesen: „Sie riskierte ihr Leben, um eine Jüdin und deren Tochter vor der Deportation und Ermordung durch die Nationalsozialisten zu bewahren.“ Vielleicht, sagt Inge Deutschkron, fand Lisa Holländer in der Hilfe für die beiden Frauen Trost. Ihren jüdischen Ehemann hatte sie nicht vor dem Tod bewahren können, dafür aber Inge und Ella Deutschkron. Es war ein stiller Akt der Menschlichkeit. Und es war Widerstand gegen die Nationalsozialisten.

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