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Berlin: „Wir brauchen mehr Hausbesuche“

Ulrich Fegeler, Sprecher der Berliner Kinderärzte, über Verwahrlosung und Pflichtuntersuchungen

In dieser Woche wurden abermals vernachlässigte Kinder gefunden, wieder hat niemand etwas gemerkt. Was läuft schief?

Eltern sind mit ihren Kindern überfordert, Nachbarn bemerken scheinbar nichts und die Ämter hatten vielleicht mal Notiz von Missständen, verwalten aber manchmal aneinander vorbei.

Nimmt Ihrer Erfahrung nach die Verwahrlosung in den Familien generell zu?

Man muss zunächst den Begriff Verwahrlosung definieren. Es gibt die ganz drastischen Fälle, wie sie zuletzt durch die Medien gingen. Hier spielt in der Regel eine schwere psychopathologische Störung der Eltern eine Rolle. Kinder werden nicht versorgt und vegetieren unter qualvollsten Bedingungen. Mit einer gewissen Vorsicht kann man aber auch von einer schleichenden, gesellschaftlich fast gleichgültig aufgenommenen Form der Verwahrlosung sprechen. Kinder wachsen ohne Förderung und Ansprache auf, sie werden vor dem Fernseher geparkt. Wenn sie nichts anderes lernen, gehen sie später mit ihren Kindern ähnlich um. Wir wissen, dass von den Kindern, die als Fünfjährige sprachentwicklungsgestört sind, nur die Hälfte eine Chance haben, die Schule abzuschließen.

Welche Kinder und Eltern sind gefährdet?

Da sind vor allem Familien mit geringer Bildung und wenig Geld betroffen. Von Ausnahmen abgesehen, haben wir es mit einer Schichtenproblematik zu tun. Ein Beispiel: Zu mir kommt eine junge Mutter, die mit 17, 18 Jahren das erste Kind bekommen hat. Ich habe sie als Kind betreut, jetzt ist sie 24, hat fünf Kinder, aber keine Arbeit und keine Perspektive. Sie ist guten Willens und kommt zu uns in die Praxis. Aber man merkt, sie ist schlicht überfordert.

Kann eine Pflichtuntersuchung helfen?

Wir Kinderärzte sind in einem Dilemma. Wir sind leidenschaftliche Vorsorger. Und vielleicht sind Pflichtuntersuchungen also sinnvoll. Aber: Ich sehe rechtliche Probleme, ob man solch eine Untersuchung vorschreiben darf. Zudem glaube ich, dass wir die ganz krassen Fälle von Vernachlässigung durch Pflichtuntersuchungen allein nicht verhindern könnten.

Warum?

Man kann Eltern stärker in die Pflicht nehmen, etwa indem man Ihnen Sozialleistungen kürzt, wenn sie sich weigern, an Untersuchungen teilzunehmen. Doch Druck alleine hat in solchen Fällen noch nie etwas bewirkt. Eltern, die – wie in den extremen Verwahrlosungsfällen – oft schwer psychisch geschädigt sind, wird man auch mit Zwang nicht dazu bewegen, ihre Kinder untersuchen zu lassen. Und: Vieles, was Kinderärzte heute schon an Erkenntnissen aus Untersuchungen ziehen, müsste Konsequenzen haben – dafür fehlen aber die Voraussetzungen. Man müsste die Kinder überforderter Eltern in entsprechende Kindergärten schicken können, wo sie von erfahrenen Pädagogen besonders betreut werden. Wir aber hören von Ämtern Argumente wie: „Das Kind muss nicht in den Kindergarten, die Mutter ist doch zu Hause.“ Da fehlen mir die Worte.

Was schlagen Sie vor?

Wir könnten die Pflichtuntersuchungen durchführen, so wie wir früher Pflichtimpfungen durchgeführt haben. Aber was wir Ärzte nicht können, ist kontrollieren und sanktionieren – wenn Eltern ihre Kinder nicht so aufziehen, wie auch wir es für wünschenswert halten. Das wäre in meinen Augen die natürliche Aufgabe des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, speziell des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes.

Was genau sollen diese Dienste tun?

Wir sollten die aufsuchenden Gesundheitsdienste stärken. Sie müssten bei allen Müttern und Vätern nachsehen, mehr Hausbesuche machen – und dann entscheiden, wo weitere Kontrollen dringend nötig sind. Nur wird gerade dort – im öffentlichen Gesundheitsdienst – seit Jahren rigide gespart. Dabei wäre das Gegenteil nötig.

Hätte ein besser ausgestatteter Gesundheitsdienst jene Fälle von Verwahrlosung, über die nun heftig diskutiert wird, verhindern können?

Ich glaube, ein guter Dienst hat auch in solchen Fällen eine Chance. Aber noch einmal: Das alles zu regeln, ist Aufgabe des Staates. Wir Ärzte würden nicht zu den Eltern sagen: ,In drei Monaten haben Sie wieder in der Praxis aufzutauchen. Wenn Sie die Untersuchung nicht wahrnehmen, schicken wir Ihnen das Jugendamt ins Haus.’ Das würde uns so viel Vertrauen kosten, dass unsere Praxen schnell leer wären.

Berlin will nun Netzwerke einrichten, die den Austausch zwischen Kinderärzten, Ämtern und anderen zuständigen Stellen erleichtert. Was halten Sie davon?

Diese Netzwerke gibt es schon. Das entscheidende Problem in vielen Fällen, über die wir jetzt reden, scheint mir zu sein: dass aus den Erkenntnissen, die es teilweise gab, in den Ämtern keine Konsequenzen gezogen wurden.

Das Gespräch führte Marc Neller.

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