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Berlin: „Wir sind Penner für die“

Früher war Neukölln der Bezirk der kleinen Leute. Heute fühlen sich die Deutschen in der Minderheit – und von Ausländern schlecht behandelt

Auf dem Friedhof, sollte man meinen, ist Neukölln noch, wie es war. Da ist Neukölln der große Bezirk der braven kleinen Leute geblieben, spießig, ordentlich, korrekt. Die Toten, die hier ruhen, hießen Anna Lehmann oder Otto Plenz. „Liebe und Geduld, so war mein Leben“, steht auf einem Stein, auf einem anderen heißt es: „Schaffen und Streben - das war sein Leben!“ Wer es zu etwas gebracht hat in Neukölln, der gab Geld für ein Familiengrab aus. Eines erinnert schwarz und regennass an die Familie Köppe, ein anderes an die Familie des Fleischermeisters Franz Kaminski. So hießen die Einwanderer aus dem Osten Europas, längst auf Neuköllner Friedhöfen beerdigt, Kaminski oder Sarnewski oder Potowski. Neuerdings kommt eine weitere Einwanderungswelle hier zur Ruhe: Am Ende der beiden Friedhöfe entsteht ein Gräberfeld, auf dem Namen wie Suleyman Can, Smuni Aykil oder Ibrahim Günes zu lesen sind. Es sind die Toten einer syrisch-orthodoxen Gemeinde, zugewandert vor Jahrzehnten, als Berliner in Berlin gestorben.

Sie ruhen in Rufweite der Rollberg-Siedlung, eines von drei Neuköllner Gebieten mit Quartiersmanagement. Der Rollberg-Kiez ist zum Synomym für Schwierigkeiten durch Zuwanderung geworden. Kriminelle Jugendliche; Machos aus arabischen Großfamilien, die ihr Geld wer weiß wie verdienen; ein Polizist, erschossen bei einem Festnahmeversuch; Kinder, die nicht richtig Türkisch sprechen, von Deutsch ganz zu schweigen; Deutsche, die sich überrollt fühlen; zahllose Sozialhilfeempfänger – alles wahr und zutreffend und alles falsch und irreführend.

Der Rollberg gehört zu den wenigen Vorführprojekten des Quartiersmanagements. Wer hier unterwegs ist und sich von breitschultrig daherkommenden, glutäugigen Jungmännern in Sporthosen und Daunenjacken nicht erschrecken lässt, braucht keine Angst zu haben. Die Quartiersmanager Renate Muhlak und Gilles Duchem haben so etwas wie Autorität und Respekt erworben. Ihre Drähte zur Polizei und zu den Leuten vom Rollberg funktionieren gleichermaßen, sie haben in der Siedlung aus den 70er Jahren so etwas wie eine dörfliche Kommunikation erzeugt. Die führt dazu, dass die Quartiersmanager schnell mitbekommen, wenn sich wieder Ärger und Frust aufbauen. Dann bringen sie die Leute zusammen. Und dann reduziert sich das Gegeneinander von deutschem Rentner und kinderreicher arabischen Mutter auf einen Nachbarschaftskonflikt, den man lösen kann.

Wer über den Rollberg geht, merkt noch etwas anderes: Die Siedlung ist durchwirkt von „Angeboten“. Im Zentrum die Quartiersmanager, drumherum findet sich vom Kindernotdienst bis zum Treffpunkt für chronisch Schwerkranke alles, was der deutsche Sozialstaat zu bieten hat. Und was, wenn das soziale Netz zerreißt? Der Rollberg-Kiez würde ohne die tägliche sozialtherapeutische Betreuung auf das übliche Neuköllner Konfliktniveau sinken. Eine Floristin, die in der Nähe des Hermannplatzes arbeitet, erklärt ihren Alltagsärger, den großen Frust, der in Neukölln-Nord fast zu atmen ist, mit den Einwandererkindern: Ein Junge habe sie neulich angepöbelt, als sie vom Arzt kam, der ihre Schulter eingerenkt hatte. „Frech gegrinst“ habe der Bengel, statt sich zu entschuldigen – da habe sie ihm in ihrer Wut eine „blutige Nase“ verpasst.

Die Floristin hat nichts gegen Ausländer, nichts besonderes jedenfalls, nicht mehr als gegen die deutschen Krawallmacher mit ihren Kampfhunden. Den Unterschied beim Ärger über die Neuköllner Entwicklung machen in ihren Augen die Kinder und Jugendlichen. Sie erzeugen bei vielen Einheimischen das Gefühl, Neukölln sei nicht mehr ihre Gegend – das Gefühl wachsender Fremdheit. Neukölln ist nicht über-fremdet. Der Ausländeranteil liegt sogar in den Problemgebieten nicht höher als 35 Prozent. Gewiss, die türkische und arabische Infrastruktur wird immer dichter. Auf der Karl-Marx- oder der Hermannstraße finden sich so viele türkische wie deutsche Geschäfte, mindestens. Die Türken und Araber unterhalten Internetcafés und „Worldwide“-Telefonzentren, alles, was mit Essen zu tun hat, Brautmodeläden – Deutsch muss man hier nicht mehr können, um im Alltag zurechtzukommen. Aber die Schultheiss-Werbung an den Eckkneipen leuchtet immer noch in der Nacht.

Wer mit der Multikulti-Brille über die Karl-Marx-Straße geht, der fühlt sich wie in der Berliner Version einer Peter-Stuyvesant-Zigarettenreklame: Er sieht Gesichter aus allen Erdteilen, lachende türkische Mädchen, vietnamesische Familienväter mit Kinderwagen, schwarze Frauen, die schwarzen Männern um den Hals fallen. Die unfreundlichen Geschichten hört, wer mit den Leuten redet, die hier ein bißchen Geld zu verdienen versuchen. Sie enthalten die üblichen Ärgernisse, über Müll und Lärm, manchmal die Sorge vor Kriminalität – alles nicht so schlimm. Immer aber Klagen über die Migrantenkinder. Dass die oft sehr frech sind, wissen die Quartiersmanager am besten. Das Gefühl, der erwählten Religion anzugehören, ist offenbar der letzte Rest von Tradition, den diese Kinder mitbekommen. Das macht sie, darin sind sich die Quartiersmanager mit den verärgerten Alt-Neuköllnern einig, ziemlich hochmütig. „Wir sind Penner für die“, sagt der Trödler in der Flughafenstraße. Neukölln war immer schon Arbeitergegend, sagt die Schneiderin, die vor 25 Jahren ihren Laden an der Schillerpromenade eröffnet hat, „aber es war netter.“ Heute würde sie ihre Werkstatt nicht mehr in Neukölln-Nord aufmachen, und ihre Kinder will sie schon gar nicht in der Gegend groß werden sehen. Quartiersmanagerin Kerstin Schmiedeknecht bestätigt den problematischen Trend: Migranten und junge Deutsche kommen nach Neukölln-Nord. Doch wenn die jungen Deutschen Kinder bekommen, ziehen sie weg. Die Schneiderin sagt, wenn sie abends zum Bus gehe, dann frage sie sich manchmal: „Wo bin ich eigentlich hier?“

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