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Berlin: „Wir stellen Verfahren ein, um nicht in Akten zu ersticken“

Generalstaatsanwalt Neumann sieht den Rechtsstaat in Gefahr – weil die Ankläger kaum noch Zeit finden, sich gründlich mit Fällen zu befassen

Herr Neumann, in der Regel geben Sie keine Interviews. Weshalb jetzt?

Weil ich mir allmählich große Sorgen um den Rechtsstaat mache. Dass die Justiz das Armenhaus der öffentlichen Verwaltung ist, ist eine leidige preußische Tradition. Wir konnten nie Speck ansetzen. Nach jahrelangen Sparmaßnahmen sind wir jetzt am Ende unserer Kapazitäten. Wir sind nicht mehr in der Lage, in der angemessenen Art und Weise Strafverfolgung zu betreiben.

Wie wirkt sich das auf die Praxis aus?

In den letzten Monaten ist viel über die Intensivtäter diskutiert worden...

... Täter, die bereits als Kinder eine Reihe erheblicher Straftaten begangen haben und trotzdem immer wieder auf freien Fuß kommen. Wie der der polizeibekannte Sawis, der jüngst auf einem Schulhof fünf Lehrer verprügelte.

Wir hätten dieses Problem mit den Intensivtätern gar nicht, wenn wir angemessen ausgestattet wären. Wenn sich die Jugendstaatsanwälte gründlich mit den Fällen befassen könnten, aber dazu fehlt ihnen die Zeit. Deshalb versucht man, Ballast in Form von Einstellungen abzuwerfen und neigt eher zu Kompromissen. Jeder Staatsanwalt muss zusehen, wie er die Akte vom Tisch bekommt, sonst erstickt er. Es ist ein Akt der Notwehr.

Die Polizei behauptet, dass über 90 Prozent der Intensivtäter ausländischer Herkunft sind.

Ich habe mir von Polizeipräsident Glietsch die erste Liste mit hundert Namen geben lassen, damit wir schon einmal anfangen können. Ein Großteil davon sind ausländische Namen, was jedoch nicht ausschließt, dass es deutsche Staatsangehörige sind.

Nur die erste Liste? Wir dachten, bei Mahmoud und Sawis handele es sich um extreme Einzelfälle.

Ach was, es sind hunderte.

Woran liegt es, dass so viele ausländische Jugendliche darunter sind?

Ich weiß es nicht. Ich bin Staatsanwalt und kann das nur beobachten.

Warum haben Sie keine eigene Abteilung für Intensivstraftäter eingerichtet?

Weil wir nicht können. Grundsätzlich gilt: Jede Spezialabteilung fördert die Verfolgungstiefe, aber sie bindet auch Kapazitäten. Mir fehlen im Vergleich zum mir zuerkannten Bedarf 65 Staatsanwälte. Wenn wir uns ein Sonderdezernat für Intensivtäter leisten, muss ich an anderer Stelle Personal abziehen. Wenn ich dann vorschlage, dafür die Spezialabteilung für missbrauchte Frauen zu schließen, die Abteilung häusliche Gewalt oder Schwarzarbeit, heißt es von politischer Seite aber: Um Gottes willen, nein!

Wie soll die neue Abteilung arbeiten?

Die Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen, aber meine Vorstellung ist folgende: Ein Intensivtäter sollte immer zum selben Staatsanwalt kommen, der ihn sozusagen von der ersten Straftat an begleitet: Ist er schon als Kind aufgefallen, muss die Akte sobald er strafmündig ist, schon beim zuständigen Staatsanwalt liegen. Alle Verfahren, egal, ob es um Ladendiebstahl, Fahren ohne Führerschein oder Körperverletzung geht. Die Akte bleibt beim Staatsanwalt. Auch wenn der Jugendliche ins Gefängnis geht, wird er nicht aus den Augen gelassen, damit man sofort reagieren kann, wenn er im Hafturlaub oder während des Ausgangs etwas anstellt. Die Staatsanwälte arbeiten eng mit der Polizei, dem Jugendamt, der Schule und den Bewährungshelfern zusammen. Der Betroffene muss das Gefühl haben, ständig unter Beobachtung zu sein. Er muss glauben: Du darfst hier noch nicht mal bei Rot gehen, sonst steht da gleich dein Staatsanwalt.

Warum ist es bisher nicht so?

Weil wir dafür das Personal nicht haben.

Gab es nicht schon einmal eine Spezialabteilung für Straftaten während des Vollzugs?

Ja, aber die ist auf Veranlassung der Politik 1989 abgeschafft worden. Ebenso wie die Spezialabteilung für ausländische Täter, weil man sie als diskriminierend einstufte.

In der Politik gibt es derzeit einen Stimmungsumschwung. SPDChef Strieder sprach von Grenzen der Toleranz. Innensenator Körting erklärte, es müsse Schluss sein mit der Umarmung des Sozialarbeiters.

Ich dachte, ich höre nicht recht (lacht). Als Körting Justizsenator war, hätte ich mir ja mal gewünscht, dass er so etwas sagt. Seinen heutigen Standpunkt kann ich nur unterstützen. Insbesondere bei den gewaltbereiten Jugendlichen muss es vorbei sein mit der ewigen Nachsicht. Ein Großteil der Jugendlichen kommt ja nie wieder. Bei einem Ersttäter, der mal klaut, sollte man alle Fünfe grade sein lassen. Aber wenn einer eine kriminelle Entwicklung zeigt, dann sollte man konsequent und hart vorgehen.

Wie kommt es zu diesem Umschwung?

Ich denke, es handelt sich um eine gesellschaftspolitische Entwicklung. Nach der 68er-Bewegung war ja Strafe nicht mehr richtig gewollt. Der Gedanke der Resozialisierung schwebte über allem. Man hat das Zuchthaus abgeschafft, die festen Heime – mag alles berechtigt gewesen sein. Aber vielleicht hat man den Bogen etwas überzogen. Inzwischen halten sich zu viele nicht an die Regeln. Sie werden ja heutzutage geradezu als Idiot angesehen, wenn Sie bei Rot vor der Ampel stehen bleiben. Bei den Jugendlichen hat man versäumt, deutlich zu machen, dass irgendwann wirklich Schluss sein muss. Das ändert sich jetzt offenbar wieder.

Wie auch das Verständnis dafür, dass Gewalttäter immer wieder auf Bewährung frei kommen? Wie beispielsweise Bankräuber und Geiselnehmer Wurm?

Zu schwebenden Verfahren möchte ich mich nicht äußern. Man wird sich jedoch fragen müssen, ob es sich hierbei um einen Schwerstkriminellen handelt, der sich nie ändert. Wenn das so ist, dann muss die Öffentlichkeit vor ihm geschützt werden. Je länger der Gefängnisaufenthalt, desto besser.

Geschieht es oft, dass Gefangene trotz des Widerspruchs der Anklage rauskommen?

Ja. Wir sind in der Regel weniger nachsichtig. Ich habe eine Direktive an die Staatsanwaltschaft gegeben. Sie wird aufgefordert, insbesondere bei menschenverachtender Gewaltkriminalität die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung sehr kritisch zu prüfen. Bei den jugendlichen Tätern besteht nämlich die Gefahr, dass sie die Bewährung nicht richtig begreifen. Sie sagen sich: Ist ja nichts weiter passiert und empfinden die Bewährungsstrafe nicht als belastend, sondern eher als Schwäche des Rechtsstaats.

Spezialabteilung auf, Spezialabteilung zu – fühlen Sie sich manchmal von der Politik instrumentalisiert?

Wir werden sicher in einem gewissen Maße fremdbestimmt. Aber ich will mich darüber nicht beklagen, denn es ist die Aufgabe der Rechtspolitik, Akzente zu setzen. Problematisch ist, dass wir von der Politik als gesellschaftspolitischer Reparaturbetrieb angesehen werden. Das können wir nicht leisten. Wir können Regelverstöße ahnden, das ist aber auch alles. Und in einigen Bereichen gelingt nicht einmal mehr das.

Gibt es noch andere Beispiele?

Im Bereich der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität ist die Situation noch schwieriger. Wir führen Prozesse teilweise nicht zu Ende, weil sie jahrelang dauern. Oder lassen uns aus Resignation im Grunde genommen die Strafe abkaufen.

Ist das eine Bankrotterklärung?

Nehmen wir ein Verfahren wie die Bankgesellschaft Berlin: Da stoßen wir nicht nur an die rechtlichen Grenzen, weil ausgelotet werden muss: Ist Größenwahn strafbar? Wo endet lediglich moralische Verwerflichkeit, wo beginnt kriminelles Handeln? Diese interessanten Fragen wird das Gericht entscheiden müssen. Wenn man Vorstände hat, die ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Wenn man Aufsichtsräte hat, die keine Aufsicht ausführen. Das ganze Desaster hatte schließlich zum Ergebnis, dass die verantwortlichen Vorstände mit Millionenbeträgen abgefunden wurden. Dieses Geld wird jetzt genutzt, um die hochkarätigsten Anwälte der Republik und die besten Wirtschaftsprüfer anzustellen. Derweil lehnt sich die Politik zurück und sagt: Die Staatsanwaltschaft wird das schon richten. Wir können es nicht, wenn man uns nicht die Mittel dazu gibt.

Aber die Sonderermittlungsgruppe ist doch ganz komfortabel ausgestattet.

Komfortabel ist übertrieben. Wir haben zusammengezogen, was machbar war. Für die Verfahren Bankgesellschaft mussten aus dem Bereich Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität zehn Staatsanwälte und mehrere Wirtschaftsreferenten abgezogen werden. Diese Mitarbeiter fehlen jetzt natürlich an anderer Stelle. Auf den Ersatz für die Staatsanwälte warte ich bis heute vergebens. Aber Finanzsenator Sarrazin weigert sich, eine Ausnahme vom Neueinstellungs-Verbot zu machen.

Wann ist mit Anklagen zu rechnen?

Es zählt zu meinen Grundprinzipien, dass ich keine Zeitvorgaben mache. Aber bei der Bankgesellschaft Berlin sind wir in einigen Bereichen durchaus weit gediehen.

Droht uns, dass sich die organisierte Kriminalität wie in anderen Ländern ausbreitet?

Je weniger Kapazitäten wir haben, desto weniger finden wir natürlich auch. Seit der Wiedervereinigung haben wir eine härtere, brutalere Kriminalität als früher. Aber wir laufen derzeit nicht in Gefahr, von der organisierten Kriminalität in nicht beherrschbarem Maße überschwemmt zu werden.

Gibt es keine Wege, kreativ mit dem Mangel umzugehen?

Nein. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass das Problem durch moderne Bürokommunikationsmittel und straffere interne Behördengänge gelöst wird. Das geht nicht.

Wem geben Sie die Schuld?

Was heißt hier Schuld? Die Justizsenatorin Schubert kann auch nur verteilen, was sie hat. Finanzsenator Sarrazin kann das Geld nicht drucken. Die Politik insgesamt muss sich die Frage stellen: Wie viel ist uns der Rechtsstaat wert? Der Mangel herrscht ja nicht nur bei den Staatsanwaltschaften. Er betrifft die gesamte Justiz.

Viele machen Generalstaatsanwalt Karge, der sich in sein Amt zurückgeklagt hat, für die schlechte Stimmung in der Staatsanwaltschaft verantwortlich.

Zur Problematik Karge möchte ich nichts sagen. Er ist jetzt wieder da, und wir müssen damit umgehen. Dass das alles nicht sehr erfreulich gelaufen ist, ist keine Frage. Es stimmt, dass die Stimmung nicht gut ist. Aber es wäre zu einfach zu sagen, dass daran Karge allein schuld ist.

Also Karge plus die vielen Überstunden?

Das ist auch nicht das grundsätzliche Problem. Es liegt vielmehr daran, dass die Staatsanwälte nicht mehr mit der gebotenen Gründlichkeit arbeiten können. Da entsteht Frust. Die Arbeit eines Staatsanwaltes ist schließlich kein Job. Wir haben eine vom Staat übertragene Aufgabe. Der können wir aber nur nachkommen, wenn man die dafür erforderlichen Voraussetzungen schafft. Daran fehlt es leider.

Das Gespräch führten Katja Füchsel und Markus Hesselmann

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