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Die letzte Party der DDR. Der Moderator Jürgen Karney und das ostdeutsche Fernsehballett tanzten am 31. Dezember 1988 noch einmal ungerührt ins neue Jahr. Foto: p-a/ ZB

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Berlin: „Wir waren aufgewühlt“

Lothar Heinke, Reporter aus Ost-Berlin, erinnert sich an kleine Zeichen und große Fragen. Und an eine Rede von Erich Honecker, die das ganze halbe Land in einen Schock versetzte.

Das Wetter ist nieselig, Raketenböllerknaller lassen Prenzlauer Berg erzittern, Rotkäppchenkorken fliegen durch die Wohnungen, in der Gleimstraße stürzt ein Balkon mit vier jungen Männern in die Tiefe, ein 26-Jähriger stirbt, im Fernsehen singen sie die „Neunte“, durch die Staatsoper fliegt „Die „Fledermaus“, und drei Minuten nach Mitternacht begrüßt Sarah, 47 cm klein und 3000 Gramm schwer, als neue Berlinerin diese Stadt.

Das Jahr 1989 beginnt.

Was hatten wir uns gewünscht? Erträumt? Erhofft? Liebe? Ehe? Kinder? Geld? Nein, nicht nur das. Selten zuvor mischte sich an diesem Jahreswechsel von ’88 zu ’89 so viel Persönliches mit den Dingen des Alltags und der Administration, die alle Menschen berühren. Es hatte sich einiges angestaut. Kein Kabarettprogramm hätte gereicht, die Fehler und Versäumnisse des Staates und seiner Führung durch den Kakao zu ziehen. Es wurde täglich schwerer, keine Satire zu schreiben.

Die Leute, wir, waren aufgewühlt, die Volksseele köchelte vor Erwartung. Nein, so konnte es nicht bleiben. Wer sich die Neujahrsansprache Erich Honeckers bis zum Ende antat, hörte nur die altbekannten Phrasen: „Mit neuen Initiativen im sozialistischen Wettbewerb, auf allen gesellschaftlichen Gebieten, bereiten wir den 40. Gründungstag des ersten sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden vor.“ Honecker war längst der Realitätssinn abhanden gekommen. Nichts sehen, nichts hören. Mit dem Verbot des sowjetischen Magazins „Sputnik“ (von dem der zuständige Postminister aus der Zeitung erfuhr!) wurde die Antipathie der SED-Spitze gegen alle Reformen, die in Moskau geschahen, offensichtlich. In Polen wurde Solidarnosc zu einer Macht, immer mehr Autos in Ost-Berlin zeigten mit Aufklebern Sympathien für die Bewegung im Nachbarland. Leute, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, ließen ein weißes Band an der Antenne flattern. Ungarn stand kurz davor, die Grenzen abzubauen, im eigenen Ländchen war die Arbeitsmoral tief gesunken, Demokratiedefizite wurden immer deutlicher, Versorgungsprobleme häuften sich. „Privat geht vor Katastrophe“ war die Devise in einem Volk, das die Nase voll hatte und eine ganz andere DDR wollte.

Davon ist in einer Umfrage des „Neuen Deutschland“ natürlich nicht die Rede. Woran erinnern Sie sich gern, was war ihr schönstes Erlebnis 1988? Ein Baubrigadier: „Als ich den Schlüssel für die neue Wohnung in der Hand hielt.“ Bäckermeister Schnell: „Als Sohn Torsten die Meisterprüfung mit einer 1 abgelegt hatte.“ Und Tierparkdirektor Dathe schwärmt von einem „Bild unbeschreiblicher Schönheit an der Ostsee“: Ein langgezogener Keil von 93 schneeweißen Schwänen zog „flötend und trompetend am Horizont entlang, dieses Naturschauspiel begeisterte mich über alle Maßen“.

Dann kommt dieser 19. Januar 1989. Das Thomas-Müntzer-Komitee hat zu einer Sitzung ins Staatsratsgebäude geladen. Der 500. Geburtstag des Bauernführers soll groß gefeiert werden. Mitten in seiner Rede, ziemlich unvermittelt, sagt Honecker plötzlich: „Die Sicherung der Grenzen ist das souveräne Recht eines jeden Staates. Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind.“ Diese Sätze wirken wie ein Schock. Die Leute hatten etwas ganz anderes erwartet, zumindest, wie die Mauer erträglicher werden könnte. Irgendeine Idee in der nationalen Frage. Oder ein Reisegesetz. Stattdessen diese Härte gegen alle Überlegungen, die gerade in Moskau angestellt werden. Dort spricht man vom gemeinsamen europäischen Haus, und niemand, außer Honecker, hatte die Absicht, sich in einem Teil dieses Hauses einzumauern.

Die Wirkung der Langzeitmauerankündigung war fatal. 1987: 105 000 Ausreiseanträge. 1988: schon 113 500. Die Zahl steigt weiter, nun erst recht. Bis zu diesem 9. November, als das Kartenhaus zusammenstürzt und Berlin auf der Mauer tanzt. Und was hatte Thomas Müntzer vor 500 Jahren zum Thema Revolution gesagt? „Alles hat seine Zeit, und die Zeit bringt aus ihrem Schoß nur das recht hervor, was gereifet ist...“

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