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Und jetzt ’ne Pizza. Gedenken macht hungrig – am Holocaust-Mahnmal zumindest. Nach der Besichtigung werden die Besucher meist von Mitarbeitern der Kneipen gegenüber abgefangen.

© David Heerde

WM 2014 - Public Viewing am Brandenburger Tor: Ballermann am Holocaust-Mahnmal

Ein Schnitzel am Rand des Stelenfelds gefällig oder lieber gleich ein Besäufnis mit Tequila? Wer das Denkmal für die ermordeten Juden besichtigt hat, wird weitergelotst – in die Kneipen gegenüber. Am Montag startet das Public Viewing am Brandenburger Tor.

Immer dort, wo das Leben tobt, da ist sein Platz. Früher war er am Ku’damm. Da sei nichts mehr los, sagt er. Jetzt steht der Mann mit der verspiegelten Sonnenbrille und dem beigefarbenen T-Shirt im Surferlook am Rande des Holocaust-Mahnmals, dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Da ist auch jetzt schon eine Menge los. Und am Montag, wenn sich mit dem ersten Deutschland-Spiel bei der Fußball-WM in Brasilien erstmals die Fanmeile am Brandenburger Tor wieder füllt, kommen auch hierher noch mehr Menschen.

„Wollt ihr essen oder euch nur betrinken?“, ruft der Mann mit der Sonnenbrille zwei älteren Damen zu, die gerade aus dem Stelenfeld treten. Sie kichern erst, lehnen dann lachend die angebotene Flasche Tequila ab und setzen sich doch an einen der vielen Holztische. „Zwei Pils für die 103“, ruft er nun fröhlich der Bedienung zu. Wenn er den Menschen eine Tischnummer zugeteilt hat, ist sein Ziel erreicht, sind Gäste fürs Restaurant angeworben. Schnitzel im Sonderangebot – mit Blick auf ein Mahnmal, mit dem der Morde an sechs Millionen Menschen während der NS-Zeit gedacht werden soll. Aus den Boxen dröhnt „Sexual Healing“ von Marvin Gaye. Es ist Hochsaison. Mit dem Sommer hält auch der Ballermann Einzug am Mahnmal.

Schüler flitzen schreiend durch die Schluchten

Auf der anderen Straßenseite lehnt Tilo Herrmann an einem der 2711 Betonquader. Sein blau-weiß gestreiftes Polohemd hebt sich gut ab vom Grau-in-Grau der Stelen. Gegen die Sonne hat er sich einen dunkelblauen Krempenhut aufgesetzt. Er steht ja den ganzen Tag hier, kennt jede Ecke auf dem 19 000 Quadratmeter großen Areal. Seit zwei Jahren organisiert der 38-jährige Historiker Führungen durch das Mahnmal.

Weiter hinten im Stelenfeld springen zwei Mädchen von Betonklotz zu Betonklotz. Schüler flitzen schreiend durch die Schluchten zwischen den Stelen. Es ist der ideale Ort, um Fangen zu spielen. Architektonisch gesehen. Und vielleicht der schlechteste Ort, um Fangen zu spielen. Historisch, moralisch gesehen. Die Hausordnung verbietet es sowieso.

Partystimmung am Mahnmal

Herrmann spricht die Menschen nicht mehr darauf an. „Die Gäste, die dieses Treiben beobachten, erfahren mehr über sich, als die, die sich so benehmen“, sagt Herrmann. Die Partystimmung am Mahnmal als Denkanstoß, als schmerzhafte Erinnerung daran, dass auch ein abscheuliches Menschheitsverbrechen wie der Holocaust, selbst am Ort der Erinnerung, noch von Mitmenschen vergessen werden kann.

Auch neun Jahre nach Eröffnung des Stelenfeldes bleibt die Debatte um die Nutzung und Bedeutung des Mahnmals eine philosophische. „Das Denkmal gibt einem nicht vor, was es sein soll“, sagt der Historiker Tilo Herrmann und wendet sich wieder seiner Gruppe von etwa 15 Schülern aus Baden-Württemberg zu. Im Sommer ist Reisezeit. Im Sommer kommen sie in Scharen. Sie wollen Antworten auf ihre Fragen, doch das Mahnmal gibt keine. Es wirft nur neue auf.

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin.
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin.

© David Heerde

Dabei ist Sinn und Zweck festgelegt. Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hat sich verpflichtet, dazu beizutragen, „die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen“. Was das genau heißt, ist so interpretierbar wie das Mahnmal selbst. Das Grau der Betonstelen könnte für die Asche verbrannter Juden stehen. Die leichte Neigung der Quader eine Verunsicherung beim Besucher auslösen. Oder ist das Mahnmal ein Ort der Begegnung? Und ist es vielleicht der größte Sieg über das Gedankengut der Nazis, dass Kinder johlend im Denkmal spielen? Dass das Lachen der Reisegruppen durch die Gänge hallt? Dass der Ort ein lebendiger geworden ist, im Herzen Berlins? So nah am Standort des „Führerbunkers“, der einem Parkplatz gewichen ist. Die Anwohner führen dort nun ihre Hunde zur abendlichen Runde aus.

Die meisten gehen nachdenklich - aber nicht nach Hause

„Es geht nicht darum, Menschen zu überzeugen“, sagt Herrmann. Gleich hat er die nächste Führung, will da noch mehr Fragen aufwerfen. „Aber wenn die Leute nachdenklich nach Hause gehen, hat mein Job ein kleines Vermächtnis.“

Nur gehen die meisten zwar wohl nachdenklich, aber eben nicht nach Hause. Gegenüber in der Cora-Berliner Straße lockt etwa der „Löwentreff“ mit „Deutscher Küche“ und „Bier vom Fass“. Restaurant reiht sich an Restaurant. Für die Mitarbeiter dort hat das Mahnmal eine ganz essentielle Bedeutung: Geld.

Die Gastronomie-Betriebe kämpfen um jeden Kunden

„Ohne das Denkmal wäre hier kein einziger Kunde“, sagt der Mann mit der Sonnenbrille und dem Surfershirt – der Koberer, wie der Anwerber auf der Reeperbahn heißen würde. Er gönnt sich eine Pause und isst einen der Burger, die er sonst so lautstark anpreist. Dabei hat er keine Zeit, denn jetzt, zur Reisesaison, erzählt er, müssen die Restaurants am Mahnmal ihren Umsatz fürs ganze Jahr machen. Mehr als 450 000 Besucher hat allein das Museum unter dem Stelenfeld jährlich, das Mahnmal selbst noch viel mehr. Im Winter bleiben viele Besucher weg, nun, da es warm ist, kämpfen die Gastronomiebetriebe um jeden Kunden, locken mit Rabatten die Reisegruppen direkt vom Mahnmal in die Kneipe. Das Denkmal, das der Bund für 3,1 Millionen Euro jährlich instand hält, ist ihr einziges Geschäftsmodell.

Auch Tilo Herrmann, der den Besuchern sonst so manches durchgehen lässt, wird die Mallorca-Stimmung, die seinen Arbeitsplatz umgibt, oft zu viel. Eine Handhabe hat die Stiftung nicht. Weder Bezirk noch Polizei können eingreifen. Es sei eben öffentliches Straßenland.

Tilo Herrmann hat für sich einen Weg gefunden, damit umzugehen: Wenn es auch nicht schön sei, so sei es doch zumindest ehrlich. „Wenn die Leute zu Hause sitzen und eine NS-Doku ansehen, essen sie auch Chips und trinken Bier.“ Es ist am Mahnmal wie im wahren Leben.

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