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Berlin: Wo die Räuchermännchen wohnen

Johanna Gräf-Petzoldt verkauft in ihrem Laden in der Sophienstraße originale Erzgebirgskunst.

Kurz vor elf Uhr schließt Johanna Gräf-Petzoldt ihren Laden auf und wuchtet einen fast einen halben Meter großen Nussknacker auf einen Sockel vor der Ladentür. Von außen starren einige Touristen ins Schaufenster und zeigen auf eine nur wenige Zentimeter große Streichholzschachtel, in der eine alte Werkstatt aufgebaut wurde. Die große Welt im Miniaturformat.

Mit traumwandlerischer Sicherheit tänzelt Gräf-Petzoldt durch die voll gepackten Reihen und überbordenden Regale. Hier in ihrem Laden für Erzgebirgskunst kennt sie jeden Zentimeter. Wer ihr Geschäft in der Sophienstraße 9 in Mitte zum ersten Mal betritt, bekommt leicht Angst, etwas umzustoßen. So dicht gedrängt stehen die Holzschnitzereien und Miniaturen in den Regalen. Räuchermännchen neben Holzspielzeug, Pyramiden, Schwibbögen und Spieluhren. Alles handgeschnitzt. Wenn sie Staub wischen will, muss sie Nachtschichten einlegen, erzählt sie. Erst jedes Teil ausräumen und danach alles fein säuberlich wieder einsortieren. Bis zu 8000 Artikel bietet sie an, von fingerkuppengroßen Figuren bis zu überdimensionierten Nussknackern, die bis zu 700 Euro kosten. Nippes, mäkeln die einen; wertvolle Sammlerstücke für Liebhaber, schwärmen die anderen.

Seit 27 Jahren arbeitet Johanna Gräf-Petzoldt in der Sophienstraße. Eigentlich stammt sie aus dem Vogtland, ein wenig sächselt sie noch immer. 1985 kam sie nach Berlin, damals wurde die Straße zur 750-Jahr-Feier Berlins restauriert und die Tradition der alten Handwerkergasse wiederbelebt. Zinngießer wurden angesiedelt, Goldschmiede und Holzbildhauer. Sie selbst stellte Strohkunst her. Heute ist die Gegend um den Hackeschen Markt eine Attraktion für Touristen. Und die Sophienstraße, eine der ältesten und schönsten Straßen in Berlins Mitte, ist zu einer ihrer Flaniermeilen geworden, mit Galerien, Schuhläden und Flagship-Stores. Johanna Gräf-Petzoldt hat davon profitiert, zweifellos. Vor allem seit die Gegend um die Hackeschen Höfe restauriert wurde, schlendern die Besucher durch die Gasse, fotografieren sich vor dem Laden – und vor allem: Sie kaufen Souvenirs.

Dennoch bedauert sie, dass die Geschichte der Straße in Vergessenheit gerät. Seit Beginn der Stadtteilsanierung 1993 sind zwei Drittel der Bewohner weggezogen, die Mieten schießen weiter nach oben. Die meisten Handwerker sind weg, die Keramikerin, die Handweberin, der Holzbildhauer. Johanna Gräf-Petzoldt ist geblieben, trotz der Mieterhöhungen. Nach der Wende, als kaum noch jemand ihre Strohkunst kaufen wollte, sattelte sie auf Erzgebirgskunst um und begann, Ware aus ihrer Heimat zu importieren. Heute floriert ihr Laden, 2010 wurde er als deutschlandweit bestes Geschäft für Erzgebirgskunst gekürt. Allerdings sei der Zusammenhalt in der Straße verloren gegangen, sagt Gräf-Petzoldt, alles sei anonymer geworden. Früher hätten die Handwerker in der Straße gemeinsam Sommerfeste veranstaltet oder sich auf ein Bier in der Kneipe getroffen.

Wie lange sie selbst bleibt, weiß sie noch nicht. Gräf-Petzoldt ist 66, irgendwann will sie ins Vogtland zurückkehren. Einen Nachfolger hat sie noch nicht gefunden. Wenn sie ihren Laden verkauft, dann nur an jemanden, dem die Kunst aus dem Erzgebirge genauso am Herzen liegt wie ihr. Björn Stephan

Weitere Informationen unter www.original-erzgebirgskunst.de

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