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Gedenken am Tatort. Blumen und Kerzen wurden vor dem Haus an der Köthener Straße niedergelegt, um an die 30-jährige Semanur S. zu erinnern, die von ihrem Mann grausam ermordet worden war.

© Kai-Uwe Heinrich

Wo Orhan S. lebte: Im Schatten des Potsdamer Platzes

Die Wohnblocks an der östlichen Köthener Straße gelten als sozialer Brennpunkt. Familien mit besseren Jobs verließen das Viertel in den vergangenen Jahren. Hier tötete Orhan S. seine Ehefrau auf grausame Art und Weise.

So unauffällig kann eine Grenze aussehen. Im Westen der Köthener Straße liegt der Potsdamer Platz mit seinen Luxushotels, Konzernzentralen und Edelapartments, bevölkert von Touristen, Managern und Berufspendlern. Im Osten der Straße befinden sich Kreuzberger Sozialbauten, ein kleines, lange Zeit unauffälliges Viertel zwischen Askanischem Platz und Hafenplatz. Hier, in der Köthener Straße, hat in der Nacht zu Montag der 32-jährige Familienvater Orhan S. die Bluttat verübt. Deshalb zücken hier – anders als am Potsdamer Platz – nicht Touristen ihre Kameras, sondern Pressefotografen. Sie knipsen am Dienstag das Treppenhaus, das der Hausmeister gerade mit einem Wischmopp sauber macht.

In den Innenhof haben Anwohner ein paar Blumen zum Gedenken an die getötete Frau von Orhan S. gelegt. Im Fahrstuhl riecht es streng, die Hausverwaltung hat wohl seit Jahren ihre Mühe, den Mietern hinterherzuputzen. „Ob ich sauber mache oder nicht, interessiert die Leute hier nicht“, sagt der Hausmeister, etwa 50 Jahre alt, der offenbar einfach nur gewissenhaft seinen Job machen möchte. „Neulich hat einer direkt vor mir eine Zigarette im Treppenhaus auf den Boden geschmissen.“

Das Klinkerhaus in der Köthener Straße 37 a wird zwangsverwaltet, viele Bewohner beziehen ihre Miete vom Amt, viele kommen nicht aus Berlin – wobei die meisten unauffällig, vielleicht gleichgültig nebeneinanderleben sollen, wie Nachbarn berichten. Orhan S. allerdings fiel auf. „Der war ein Pascha, immer breitbeinig, immer von oben herab, immer in der Mitte der Treppe“, sagt ein Anwohner. „Ich bin mal mit ihm aneinandergeraten, der ist aggressiv.“

Ein paar Hausnummern weiter runter in der Straße hat bis vor wenigen Monaten der Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu gewohnt. „An sich eine nette Gegend, allerdings hat sie sich entmischt“, sagt Mutlu. Familien mit etwas besseren Jobs seien weggezogen. Nun drohe aber schon der Wegzug einkommensschwacher Mieter, sagt Mutlu. Die Häuser in dem zentralen Viertel kaufe ein Finanzinvestor. Der dürfte auf zahlungskräftige Bewohner setzen.

Sehen Sie hier Bilder von der Mahnwache für die getötete Frau:

Obwohl neben dem Potsdamer Platz mit seiner modernen Architektur gelegen, zählen die Blöcke in seinem Schatten, zwischen Hafenplatz und Askanischem Platz, noch zu den sozialstrukturell problematischsten Gegenden der Stadt: Den Kiez mit seinen 6200 Einwohnern hat der Senat mit dem Entwicklungsindex vier bewertet, den Potsdamer Platz, der zu Mitte gehört, mit Stufe zwei. Stufe vier bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit mehr als dreimal so hoch wie in den Gebieten mit dem Entwicklungsindex eins ist, etwa Viertel in Charlottenburg oder Pankow. Laut Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bekommt die Hälfte der Bewohner zwischen Hafenplatz und Askanischem Platz finanzielle Hilfe von den Ämtern. Rund 70 Prozent der Kinder wachsen in Hartz-IV-Haushalten auf. „Gerade in diesem Block bekommt fast jeder irgendeine Hilfe vom Staat“, sagt ein Nachbar von Orhan S.

Etwas weiter nach Süden liegt das große Studentenwohnheim, ein grauer Bau mit verhangenen Fenstern. Doch auch hier, direkt am Hafenplatz, färbt wenig vom geschäftigen Treiben des Potsdamer Platzes ab. Im Hof, auf der Straße ist am Dienstagmittag niemand zu sehen. Die Betonburg erinnert nicht daran, dass einst die Schiffe auf dem Landwehrkanal hier im Innenstadthafen anlegten. Seit 50 Jahren ist das Hafenbecken zugeschüttet, der Landwehrkanal verläuft 200 Meter weiter weg. Der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) war am Dienstag für Anfragen nicht zu erreichen. Vergangenes Jahr hatte er die Lage im Schatten des Potsdamer Platzes allerdings nicht beschönigt: Die Arbeitslosigkeit im Kiez sei hoch, die Bildungsabschlüsse niedrig.

Es ist jedoch nicht so, dass die Köthener Straße nicht auch für Schönes bekannt wäre. Dafür zumindest kennen Musikliebhaber die Straße: Einen Aufgang neben dem Tatort befinden sich die berühmten Hansa-Studios. Hier hat David Bowie in den siebziger Jahren seine bekannte Berlin-Trilogie aufgenommen. In die Tonstudios folgten dem britischen Weltstar auch Depeche Mode, Falco, Nick Cave und U2. Im Erdgeschoss des Hauses betreten an diesem Dienstag ein paar Banker die schicke Pizzeria, eine junge Frau aus dem amerikanischen Vermont macht davor musikgeschichtliche Notizen. In den Hof 50 Meter weiter, in dem der Hausmeister seinen Wischmopp von Aufgang zu Aufgang trägt, geht sie nicht.

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