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Wohnart: Zeigt her euren Krempel

Verwelkte Blumen, Wandschmuck, Dinos: Die Internetseite freundevonfreunden.de verrät, wie Berlins Kreative heute wohnen.

Falls Sie es noch nicht wussten: Die Zeit der skandinavischen Schlichtheit ist vorbei. Die Allerweltslösung der minimalistisch eingerichteten Wohnungen mit leeren, geradlinigen Räumen, in denen alles seinen Platz hat und nichts einfach nur so herumsteht – komplett überholt. Heute darf es gerne ein wenig chaotisch zugehen. Zur Avantgarde gehört, wer versteht zu kombinieren, was nicht zu kombinieren ist.

Zu sehen ist dies auf dem Onlineportal www.freundevonfreunden.com. Dort erhält man Einblick in die Küchen, Bäder, Wohn- und Schlafzimmer der Berliner Kreativszene. Wie viele Espressomaschinen braucht der Musikmanager Tim Dobrovolny? In welchen Farbmustern sortiert die Fotografin Antje Taiga ihre Bücher? Und was für Nägel benutzt die Journalistin Ana Finel-Honigman, um ihren Schmuck an der Wand zu befestigen?

Auf die Suche nach Antworten auf genau solche Fragen machen sich Tim Seifert, 27, Student der digitalen Kommunikation, und die Fotografin Ailine Liefeld, 28, ein- bis zweimal die Woche, wenn sie die Galeristen, Designer und Künstler dieser Stadt besuchen, ihre Wohnungen und Arbeitsplätze fotografieren und Interviews mit ihnen führen. In der Regel genügt eine Stunde pro Besuch – Seifert fragt, Liefeld knipst. „Mich interessieren die persönlichen Details genauso wie die Räume als Ganzes“, sagt sie. Nur so könnten der Mensch und seine Umgebung authentisch porträtiert werden.

Authentizität ist das Schlüsselwort. Die Vorgehensweisen der großen Wohnmagazine wie „Schöner Wohnen“, die für die Zusammenstellung ihrer Beiträge schon mal eine Woche an einem Domizil verbringen, schießen Liefeld zufolge an der jungen Leserschaft vorbei: „Wenn nicht alles perfekt inszeniert ist, kann man sich besser mit den Bewohnern identifizieren und Inspirationen für die eigene Einrichtung sammeln.“ Da dürfen die verwelkten Pflanzen stehen bleiben, wie bei dem Streetart-Fotografen Just, und auch der Krempel auf dem Wohnzimmertisch von Nikolaus Jagdfeld, dem Sohn der berühmten Unternehmerfamilie, soll bloß nicht sortiert oder weggeräumt werden.

Zusammen mit der Agentur „No More Sleep“, einer Arbeitsgemeinschaft aus Grafikdesignern und Programmierern in der Mulackstraße, betreiben Seifert und Liefeld seit einem halben Jahr das Webmagazin. Mit großem Erfolg: Ende März wurde ihr Portal mit dem silbernen Lead-Award – dem Oscar der Magazinbranche – ausgezeichnet. Aus der Tatsache, dass sie mit der Seite auf einen bereits existierenden Trend aufspringen, macht Seifert kein Geheimnis: Ihr Vorbild ist der New Yorker Fotograf Todd Selby, der den Blog theselby.com betreibt. Und auch die aus London stammende Journalistin Francesca Gavin hatte bereits vor gut zwei Jahren ein entsprechendes Buchprojekt in Angriff genommen. Es trägt den Titel „Die neuen Urbanisten“, ist kürzlich in mehreren Sprachen erschienen und zeigt neben Räumen in Tokio und Paris auch Berliner Wohnungen. „Das Konzept lag einfach in der Luft“, sagt Gavin. „Nachdem minimalistische Einrichtungen dank Ikea und Co. in den 90ern massentauglich wurden, wollen die Menschen heute wieder mehr Individualität.“ Die 30-Jährige fand es frustrierend, bei ihrem Zeitungshändler kein einziges Magazin zu finden, in dem nicht alle Zimmer aussahen, als seien sie unbewohnt. Für ihr Buch war sie 18 Monate unterwegs, hat unzählige Domizile gesehen: „Manchmal waren es fünf am Tag“, sagt sie.

Warum gerade die Umgebungen von Menschen, die in der Kreativbranche arbeiten, so dokumentationswürdig sind, ist ihr zufolge einfach zu erklären: „Kreative sind in der Regel experimentierfreudiger und scheren sich weniger darum, wie stark die Inneneinrichtung ihren sozialen Status widerspiegelt – dadurch entstehen sehr interessante Dinge.“ So zum Beispiel in der Wohnung des Berliner Architektur-Kritikers, Autors und Kurators Lukas Feireiss. Dort stehen ein Plattenregal aus Pappe mit einer Dinosaurierfigur darauf und ein Buddha-Altar in Hawaii-Anmutung.

„Die Neuen Urbanisten“ soll nicht nur Inspirationen für die eigene Einrichtung, sondern auch für die nächste Reise liefern. Zu jeder Stadt hat die Autorin ein paar Tipps gesammelt, die in ihren Augen der typischen Atmosphäre entsprechen. In Berlin schickt sie die Touristen ins Kreuzberger Café „Bateau Ivre“ und zum Übernachten ins „Ostel“ nach Friedrichshain. „Städte durch ihre Bewohner und deren Wohnungen kennenzulernen, verleiht einem ein viel besseres Gespür dafür, wie eine Stadt funktioniert.“ Besonders fasziniert habe sie an Berlin, dass man tagsüber so wenige Menschen auf den Straßen treffe. „Es ist so unfassbar still“, sagt sie und fügt hinzu: „Glauben Sie bloß nicht, dass das so bleibt.“

In der neuesten Folge auf www.freundevonfreunden.com zeigt Make-Up-Künstlerin Helena Kapidzic ihre Charlottenburger Dachgeschosswohnung. Das Buch „Die neuen Urbanisten“ ist bei DVA erschienen (208 Seiten, 39,95 Euro).

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