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Berlin: Wolfgang Föhr (Geb. 1953)

Jeder andere verreist doch auch!

Zum Beispiel in einem Restaurant: Die Kellnerin beobachtet sechs eintretende Personen. Vier von ihnen bewegen sich etwas linkisch, sprechen zu laut, ihre Augen stehen ein wenig zu schräg. Die Kellnerin greift entschlossen zwei Speisekarten, kommt an den Tisch, um welchen sich die sechs Personen inzwischen gesetzt haben, reicht zwei von ihnen die Karten und wartet darauf, dass diese beiden sechs Gerichte ansagen. Entschuldigung, sagt Wolfgang Föhr, einer von den zwei Angesprochenen freundlich, auch Menschen mit Behinderung können ihr Essen selbst bestellen.

Vermutlich hätte Jahre zuvor auch Wolfgang verlegen an den Behinderten vorbeigeschaut. Er verstand die hilflose Ignoranz der Kellnerin. Aber er hielt an der Überzeugung fest, dass man diese Ignoranz umwandeln müsse, in eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit jenen. Die gleichen Chancen, Rechte und Pflichten wie alle anderen müsse man ihnen zugestehen, sie behandeln, wie man jeden anderen Menschen auch behandelt.

Seit den siebziger Jahren arbeitete Wolfgang als Betreuer; zunächst für Kinder, dann auch für Erwachsene mit geistiger Behinderung. Schon in den Achtzigern nahm er sie überall mit hin, ins Kino, in die Kneipe, in die Disco, ließ sich von verschreckten oder verächtlichen Blicken nicht irritieren, fuhr mit ihnen in die Ferien, denn jeder andere verreist doch auch. Bis nach Spanien ging es; auf dem Weg dorthin legten sie eine Pause ein, in Trier, bei Wolfgangs Familie, die solchen Besuch vorher noch niemals hatte. Sein Vater, schon früh verstorben, besaß eine Forellenzucht und eine Hühnerfarm, in denen Wolfgang häufig mithelfen musste.

Seine Mutter, früh allein mit drei Kindern, besaß Spielautomaten in den Kneipen der erzkatholischen Gegend und fuhr häufig mit dem Sohn übers Land, um das Geld einzusammeln. Sie riet ihrem Sohn, einen sicheren Beruf zu ergreifen. 1969, als andere die Fäuste schwangen und „Ho, Ho, Ho Chi Minh“ skandierten, ging Wolfgang zur Polizei. Und knüpfte erste Kontakte zur linken Szene. Von Montag bis Freitag versah er seinen Polizeidienst, am Wochenende traf er sich mit seinen linken Freunden. Bis der Abstand zwischen der einen und der anderen Welt zu groß wurde. Wolfgang kündigte bei der Polizei und zog nach Berlin.

Geld spielte keine Rolle. Brauchte er welches, trug er nachts Zeitungen aus. Er hörte Musik und machte Musik, fuhr ans Mittelmeer und in die Ardèche, baute die Bäckerei in der Ufa-Fabrik auf, bei der Arbeiterwohlfahrt organisierte er Kinderferienfahrten und arbeitete mit Behinderten. Er lief mit in den Demonstrationszügen in Brokdorf und in Gorleben.

Die behinderten Menschen jedoch bezog niemand in gesellschaftliche Angelegenheiten ein. Was verstehen die schon von Politik? Man muss eben mit ihnen sprechen, sagte Wolfgang und gründete einen Politik-Stammtisch. Zunächst fragte er: Habt ihr eine Ahnung, welche Parteien es gibt? Welche Themen sind wichtig für euch? Das Geld derjenigen zum Beispiel, die in Werkstätten arbeiten und in Heimen leben, wird einbehalten, sie erhalten nur ein knappes Taschengeld. Äußern sich die Parteien zu diesem Thema? Er schaute in den politischen Programmen nach, übersetzte die zähe Sprache in eine verständliche. Auf einer Veranstaltung im Tempodrom kurz vor der Bundestagswahl 2002 trugen dann nicht nur die sogenannten Experten ihre geschickten Formulierungen vor. Es stellten auch ein paar von Wolfgangs Leuten ihre Fragen.

Einige nannten ihn stur, andere beharrlich, aber alle fanden Wolfgang loyal. Er ließ die Menschen, wie sie waren, zerrte nicht an ihnen herum; forderte jedoch auch dasselbe für sich. Er hatte die Angewohnheit, während der Arbeitsbesprechungen niemals zwischen zwei Menschen zu sitzen, er wollte immer außen bleiben. Ein halbes Jahr lang trug er still den Verdacht, an Lungenkrebs erkrankt zu sein. Der Verdacht bestätigte sich. Aber auch die sechs Monate hätten ihn nicht gerettet. Tatjana Wulfert

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