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Berlin: Wolfgang Rath (Geb. 1927)

Man soll die Leute nicht tragen. Man soll sie gehen lassen.

Musik und Rosi – mehr brauchte Wolfgang Rath nicht. Vielleicht noch ein paar Menschen mehr, um mit ihnen zu musizieren. Es waren viele im Lauf der Jahre. Mit manchen hat er auch getanzt. Einmal ist er mit Offizieren der Bundeswehr zu Versen von Ernst Jandl marschiert, „Schmackel, schmackel – bunz, bunz“ – so lange, bis die Soldaten aus dem Takt gerieten. Er nannte das „polyästhetische Erziehung“.

Als Jugendlicher ist Wolfgang schon einmal marschiert, zwangsweise, in den Endkampf hinein. Eine Zeit ohne Musik. Ansonsten ist sie immer da. Zuerst im elterlichen Wohnzimmer in der „Weißen Stadt“ in Reinickendorf. Der Vater spielt im Streichquartett mit Kollegen von der Post, die Mutter geht mit ihm oft ins Konzert. Er ist zehn, als er seine erste Geigenstunde nimmt.

Der Vater wird eingezogen, die Mutter und seine beiden jüngeren Brüder ziehen aufs Land. Wolfgang bleibt allein zurück. Er ist 16. In der Hoffnung, notfalls als Militärmusiker durchzukommen, besucht er die Musikhochschule und fängt an, Klarinette zu spielen.

Musiker sind rar, und die leichte Muse ist gefragt. Wolfgang bekommt Engagements im Kabarett der Komiker, beim Rundfunk und spielt für Ufa-Filme mit Grethe Weiser und Marika Rökk. In der Durchhalteoperette „Die Frau meiner Träume“ begleitet er den Tanzpartner der Rökk mit feuriger Violinenmusik. Wolfgang verdient gutes Geld und genießt es, seine Mutter am Kurfürstendamm fein auszuführen. Die Kellner begrüßen ihn mit Handschlag.

Im Herbst 1944 erwischt es auch ihn: Zuerst muss er zum Arbeitsdienst, dann als Panzergrenadier an die Ostfront. Kurz vor Kriegsende landet er verwundet im Lazarett. Die Rote Armee rückt näher und näher. Mit dem vorgeblichen Auftrag, eine leere Mappe nach Flensburg zu bringen, gelingt ihm die Flucht in Richtung Westen. Dort gerät er in britische Gefangenschaft.

Im Lager liegt eine große Hakenkreuzfahne am Boden. Die meisten deutschen Soldaten zögern und gehen um sie herum. Wolfgang nicht; mit leichtem Fuß läuft er geradewegs darüber.

Die musiklose Zeit ist vorbei. Neben dem harten Arbeitsdienst kann er endlich wieder spielen, als Bandleader und Kirchenorganist. Im März 1946 kehrt er zurück zur Familie, nimmt sein Violinenstudium wieder auf. Mit Gleichgesinnten gründet er 1948 die Musikschule Reinickendorf und ein Jugendorchester.

Beim Musikmachen lernt er Rosemarie kennen. Sie heiraten im Hermsdorfer Haus ihrer Eltern, in das sie auch einziehen. 60 Jahre später werden sie dort ihre Diamantene Hochzeit begehen.

Wolfgang beginnt ein musikpädagogisches Studium. Berufsmusiker haben es schwer, aber das zerstörte Land braucht Lehrer, jung und unbelastet. Er ermuntert heranwachsende Talente, regelmäßig organisiert er Gruppenfahrten nach Westdeutschland. Sein lässiges Auftreten begeistert die Jugendlichen, sie bewundern seine Spontaneität. Fehlt mal eine Unterkunft, überredet er einen Bauern, den Heuschober zu öffnen. Und wenn schnell noch ein Chorsatz gebraucht wird, notiert Wolfgang ihn notfalls auf einer Papiertüte.

1957 wird er Leiter des Reinickendorfer Jugendfreizeitheims Fuchsbau. Neben seinem Jugendorchester proben hier Jazz-, Skiffle- und schließlich auch Rockgruppen. In einer dieser Bands spielt der junge Reinhard Mey. Noch jünger sind Katja Ebstein und Tanja Berg, die vorerst von ihren Karrieren im Schlagergeschäft nur träumen.

1963 wechselt Wolfgang Rath an das Haus am Rupenhorn in Westend, eine sozialpädagogische Fortbildungsstätte. Er setzt auf Beat, Pop und Folklore und führt die musikalische Früherziehung ein. Bei Familienwochenenden versucht er, Erwachsenen und Kindern klassische Musik nahezubringen. Sein Prinzip: Menschen nicht an ein vorbestimmtes Ziel tragen, sondern sie selber gehen lassen, ihnen Impulse geben, auf dass sie eine eigene Richtung einschlagen.

Rath gerät in allerlei Gremien. Wenn keins davon tagt, besucht er Konzerte und Theateraufführungen, ganz egal ob Laien oder Profis spielen. „Manchmal war ich sogar zu Haus“, schreibt er anlässlich seiner Pensionierung 1992.

Und doch sind da die beiden Enkel, die die Atmosphäre im großelterlichen Haus lieben. Rosi bringt ihnen am Klavier Kadenzen bei, und Wolfgang zeigt ihnen, wie daraus Musik wird – durch Weglassen.

Dann der Schock: Rosi erkrankt an Demenz. Von nun an kümmert sich Wolfgang, der bislang kaum Neigung fürs Praktische hat erkennen lassen, rund um die Uhr um seine Frau. Anfang 2011 muss sie schließlich in ein Heim. Die Trennung fällt ihm schwer. Er ist jeden Tag bei ihr. Dass ihn das selber körperlich überfordert, ignoriert er.

Eine verschleppte Bronchitis wächst sich aus zu einer Lungenentzündung. Ostern bringt ihn ein Freund ins Krankenhaus, dort kommt er auf die Intensivstation. Die letzten zwei Wochen seines Lebens muss Wolfgang ohne Rosi verbringen – und ohne die Musik. Thilo Bock

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