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Wuhlheide: Missbrauchsfälle: Parkeisenbahn übersieht Warnsignale

Der Missbrauch bei der Parkeisenbahn in der Wuhlheide hatte System. Die Täter nutzten die Vereinsstruktur, um ihre Opfer gefügig zu machen. Einer der Hauptverdächtigen hätte längst schon aus dem Verkehr gezogen werden können.

Er durfte mit nach München fahren und nach Sylt, und in Städte, die ihm unbekannt waren und spannend vorkamen. Mehr als 50 Mal fuhr der Junge gemeinsam mit seinem Peiniger durch Deutschland. Mit der Bahn, im ICE. Als Gegenleistung durfte der Mann, ein Angestellter der Deutschen Bahn und ehemaliges Mitglied bei der Parkeisenbahn Wuhlheide, Dinge tun mit dem Jungen. Dinge, die der nicht abzuwenden wusste. N., gegen den die Berliner Staatsanwaltschaft unter anderem wegen schweren Missbrauchs ermittelt, arbeitete mit System. Und es funktionierte.

Das System war auf Belohnungen aufgebaut. Es gab viele Möglichkeiten dafür. Aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass der sexuelle Missbrauch bei der Parkeisenbahn nicht nur an versteckten Räumlichkeiten auf dem Gelände der Wuhlheide stattfand, also beispielsweise in einem der fünf Stellwerke, sondern vor allem auf Ferienfahrten und in den privaten Räumlichkeiten der zumeist leitenden Mitarbeiter.

Der Besuch zu Hause war ein besonderes Privileg für die Jungen, sie waren stolz darauf, von ihrem Vorgesetzten, dem Ausbilder und erwachsenen Freund, eingeladen worden zu sein. Ein Opfer schildert es nach den Akten sinngemäß so: Man ist mit dem Vorgesetzten nach Hause gegangen, auf dem Weg hat man auch mal Fotos gemacht zum Beispiel von Straßenbahnen, dann hat man in der Wohnung zusammen mit der Modelleisenbahn gespielt und schließlich, noch während des Spiels, habe der Andere einen an den Genitalien angefasst und sich gewünscht, dass er, der Junge, dies auch bei ihm mache. Manchmal kam es dann zu Oral- oder Analverkehr.

Das harmlose Eisenbahnspiel wurde zum unfreiwillig freiwilligen Missbrauch. Später winkte bei Gefügigkeit ein schnellerer Aufstieg, etwa zum Bahnhofsvorsteher oder zum Lokführer. Und so haben die Jungen meistens die Dinge über sich ergehen lassen und nichts gesagt.

Ein solches Vorgehen von Pädophilen ist nicht neu, es ist die übliche Masche, sagen Experten, die sich mit solchen Fällen auseinandersetzen. Die Anwälte solcher Opfer kennen viele von diesen Geschichten und ähnliche Abläufe. Aber weil eine Anwältin von missbrauchten Jungen über ihre Mandanten nicht reden kann, erzählt sie von einem anderen Fall. Dem eines Jungen, der nichts mit dem Missbrauch bei der Parkeisenbahn zu tun hat. Lange ließ er seinen Peiniger machen, weil er zum einen immer ein bisschen Geld zugesteckt bekam, vor allem aber, weil er sich so viel Pizza wünschen durfte, wie er wollte. Das kannte er von zuhause nicht.

Für die Jungen der Parkeisenbahn, alle zwischen 9 und 18 Jahren, war es die wohl schönste Belohnung, aus dem Alltag ausbrechen zu können. Viele von ihnen kommen aus sozial schwachen oder zerrütteten Familien, wo oft ein Elternteil, meist der Vater, fehlt. Es gab zahlreiche Ausflüge und Ferienfahrten, nach Gütersloh, nach Neukloster ins Emsland, nach Hannover und nach Brandenburg. Auf allen Fahrten kam es zu Übergriffen.

Christian Weitzberg, der in den anstehenden Parkeisenbahn-Prozessen als Nebenkläger für die Opferseite auftreten wird, sagt: „Die Besonderheit dieses Falls liegt darin, dass hier die große Liebe zu der Eisenbahn ausgenutzt wurde, in dem man die vereinsinternen Machtstrukturen als Machtmittel gebraucht hat, um sich die Kinder gefügig zu machen.“

Gegen sieben Personen laufen Ermittlungen, lesen Sie weiter auf Seite 2.

Bisher hat die Öffentlichkeit relativ wenig erfahren über das kriminelle Treiben an einem Ort, der so vielen Kindern und Eltern wie ein Idyll vorkam, der Sehnsüchte weckt und es so einfach aussehen ließ, einen richtigen Eisenbahnbetrieb aufrechtzuerhalten – mit Kindern und Jugendlichen. Über Jahrzehnte, in der DDR und auch nach der Wende. Nur leider hat nie jemand hinter die Kulissen dieses Technikparadieses geschaut, niemandem ist aufgefallen, dass da Erwachsene völlig ohne Kontrolle und in strengen Hierarchien mit Kindern arbeiten.

Zwei abgeschlossene Verfahren gibt es bereits, darin wurden zwei ehemalige Mitarbeiter zu Bewährungsstrafen verurteilt, weil sie mehr als 50 Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Mindestens drei Verfahren stehen derzeit noch aus. Sie werden das gesamte Grauen dieser gar nicht mehr heilen Welt ans Licht der Öffentlichkeit bringen.

Gegen sieben Personen laufen Ermittlungen. Man weiß, dass die Täter meist an ihre Opfer herangetreten sind, wenn diese am Beginn der Pubertät waren. Mit 12 oder 13 Jahren, wenn Jungen verstärkt mit dem Entdecken der eigenen Sexualität beschäftigt sind und sich männliche Rollenvorbilder suchen, haben die Täter begonnen, auf sie einzuwirken. Sie haben regelrecht experimentiert, um herauszufinden, wie weit man gehen kann, welche sexuelle Orientierung sich entwickeln könnte. Dafür werden zunächst meist heterosexuelle Pornos gezeigt, die die Jungen spannend finden, danach beginnt das „Experiment“. Wenn Kinder sehr früh und vehement Nein sagten, haben die Täter schnell von ihnen gelassen. Allerdings hatten diese Jungen keine Chance mehr, im „Aufstiegssystem“ Parkeisenbahn schnell voranzukommen.

Experten, die mit den aktuellen Verfahren vertraut sind, sprechen von einer „sexualisierten Welt“, die die Mitarbeiter bei der Parkeisenbahn aufgebaut hätten. Die Konfrontation mit Anspielungen auf Sex oder Sexspiele war ständig gegeben. Und so ist vermutlich mindestens in einem Fall aus einem der früheren Opfer ein Täter geworden. So war der zur Bewährungsstrafe verurteilte Daniel P., heute 26, früher selbst Opfer von sexueller Belästigung oder sexuellem Missbrauch. P. hat in der nicht öffentlichen Hauptverhandlung auf die explizite Frage des Richters geschwiegen, hat sich aber vor dem Prozess Justizvertretern offenbart. Zeugen schildern P. als einen „wenig selbstbewussten“ jungen Mann. Machte er als Täter das, was er als Opfer gelernt hatte?

Einer der potentiellen Täter ist schon früher auffällig geworden. Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Für die Polizei und die Staatsanwaltschaft ist es besonders schwer, betroffene Jungen zum Reden zu bewegen. In der Regel, so lautet die Erfahrung einer Anwältin, „machen diese Jungs zu“. Allerdings gibt es auch umgekehrt Vorwürfe von Psychologen oder Ärzten aus Krankenhäusern, die der Polizei mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Opfern nachsagen. Der Pädagoge und Mitarbeiter des Vereins „Hilfe-für-Jungs“, Wolfgang Werner, weiß von Psychologen, „die sagen, die Jungen sind nach der Polizeianhörung traumatisierter als vorher“.

Die Täter interessiert es nicht, dass ihr Missbrauch diese Jungen ihr Leben lang verfolgen wird. Pädophile, sagt ein Justizvertreter, machen so lange weiter, bis sie erwischt werden. Es gibt Studien, die davon ausgehen, dass pädophile Täter, wenn sie überführt werden, zwischen 30 und 300 Jungen missbraucht haben.

Einer der potenziellen Täter und Hauptverdächtigen, der ehemalige Parkeisenbahner N., hätte lange schon aus dem Verkehr gezogen werden können. N. war bis vor wenigen Jahren in verantwortlicher Stellung bei der Schmalspurbahn tätig. Dann kam es zu einem Vorfall, bei dem er einen Jungen belästigt und die Mutter sich daraufhin beschwert hatte. Der Geschäftsführer, der sich heute sehr um Aufklärung bemüht, bat N. damals um eine Stellungnahme, als diese ihm nicht ausreichte, entließ er den Mitarbeiter. Allerdings hätte N. gar nicht mehr für die Parkeisenbahn arbeiten sollen, denn er war schon einmal aus dem Verein geflogen, weil die Polizei gegen ihn ermittelte. Er wurde damals wegen eines Sexualdelikts zu einer Geldstrafe verurteilt.

Vor drei Jahren erwirkt die Polizei gegen N. einen Durchsuchungsbefehl, es wird kinderpornografisches Material sichergestellt. N. behauptet, dieses stamme aus dem Jahr 2003. Warum die Polizei ihn trotzdem laufen lässt, geht aus den Akten nicht hervor. Sicher ist nur, dass auf N.’s Laptop damals viele Fotos von minderjährigen Jungen gespeichert sind.

Zwei Jahre später, zunächst im Mai und dann im Juni 2010, machen die Mitarbeiter des Müritzer Eisenbahnvereins „Hei Na Ganzlin“ eine ziemlich brisante Entdeckung in ihrer Triebwagenhalle in Bernau. Erst finden sie Kopien von Fotos Minderjähriger aus dem Internet, dann CD-Roms ebenfalls mit einschlägigem Material. Sie verdächtigen ein Paar, das seit kurzem Mitglied bei ihrer Bahn ist: Der eine ist N., der andere sein Freund M., beide kommen von der Parkeisenbahn und gehören heute zu den Verdächtigen. N. droht den Bahnfreunden mit dem Anwalt. Schließlich landet das Material bei der Staatsanwaltschaft Cottbus.

Seitdem steht der Verdacht im Raum, dass die Mitarbeiter der Parkeisenbahn die Jungen in der Szene „herumreichen“ oder selbst gemachte Videos in der pädophilen Szene vermarkten.

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