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Berlin: Zivilcourage fast mit dem Leben bezahlt

Junge Mutter ging dazwischen, als ein Radfahrer mit dem Messer bedroht wurde. Dann stach der Täter auf sie ein

Die junge Mutter sah nicht weg. Als ein älterer Passant mit einem Messer in der Hand vor einem jungen Radfahrer stand, griff Stephanie D. beherzt ein. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragte sie den Jugendlichen. „Was fällt Ihnen ein?“, wollte sie von dem Älteren wissen. Ihre Zivilcourage hätte sie an jenem frühen Morgen im Oktober vergangenen Jahres fast mit dem Leben bezahlt. Der 57-jährige Roland M. stach mit seinem Jagdmesser mehr als zehn Mal auf sie ein und verletzte sie schwer. Der Angriff kam völlig unvermittelt – auch den Radler kannte der Mann nicht.

Der Täter nahm seinem Opfer auch den Mut. Ein Jahr nach dem Angriff am Prerower Platz in Hohenschönhausen saßen sich die beiden gestern im Gerichtsaal gegenüber. „Es kann Ihnen nichts passieren“, versichert der Richter der jungen Frau. Die jetzt 20-jährige Stephanie D. braucht Zeit. Ihr Freund hält ihre Hand. „Ich war mit meiner Tochter unterwegs“, sagt die zierliche und zerbrechlich wirkende Frau. Sie wollte die damals Zweijährige für den Kindergarten anmelden. Dann waren da die beiden Männer. Der Ältere habe ausgesehen, „als hätte er Stress gesucht“. Deshalb habe sie dem jungen Radfahrer Hilfe angeboten. „Schlampe, du hast dich nicht einzumischen“, brüllte daraufhin der Mann mit dem Messer. „Ich hole jetzt die Polizei“, entschloss sich die junge Mutter. „Dann spürte ich plötzlich einen Schlag gegen die Schulter.“

Roland M., ein offenbar geistig verwirrter Mann, hatte ihr mit Wucht in den Rücken gestochen. „Es hat keiner mitgekriegt“, sagt Stephanie D. Dabei waren schon sehr viele Menschen unterwegs auf dem Prerower Platz. Händler bereiteten alles für einen Wochenmarkt vor. „Ich kippe um, sehe dann ein großes Messer fliegen, rufe nach meinem Kind“, erzählt die Mutter. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht. Ihren Retter hat sie damals nicht wahrgenommen. Der Polizist Andreas S., der zufällig in der Nähe war, hatte sich ohne zu Zögern auf den Messerstecher gestürzt.

Nun sitzt Roland M., ein hagerer Mann mit kantigem Gesicht und heiserer Stimme, teilnahmslos auf der Anklagebank. Der frühere Schiffsführer sagt, er habe die Frau töten wollen. Weil er sich von einer „roten Mafia“ und „alliierten Geheimdiensten“ verfolgt fühlte. „Der Radfahrer und die Frau gehörten zu den Beobachtern.“ Roland M. bezeichnet sich als „Patriot“. Weil er glaubt, dass er „platt gemacht“ werden soll, habe er sich drei Wochen vor der Messerattacke in der irakischen Botschaft Hilfe holen wollen. Er bat um eine Gesichtsoperation und um falsche Papiere. Er wurde abgewiesen.

„Die Frau schrammte knapp am Tode vorbei“, hält der Richter dem Beschuldigten vor. „Ich bedauere den Schmerz“, sagt M. gequält und starrt dann wieder vor sich hin. Auf dem Richtertisch liegt sein Messer. Es hat eine 15,5 Zentimeter lange Klinge. Der Beamte Andreas S. sagt später als Zeuge, er habe aus 30 Metern Entfernung gesehen, wie der Beschuldigte auf jemanden kniete und seine Hand „mehrfach hoch und runter ging“. Von hinten riss der Polizist den Täter vom Opfer.

„Ihr Einsatz hat der Frau wahrscheinlich das Leben gerettet“, sagt der Richter. Andreas S. aber will kein Held sein: „Ich habe meinen Job gemacht.“ Für Stephanie D., die nach den Stichen in Hals, Brust, Rücken und Schulter drei Tage im Koma lag, ist nichts mehr wie früher. Sie kann nicht schnell laufen, ihre kleine Tochter nicht hochheben. Der schreckliche Morgen verfolgt auch ihre Tochter. Immer wieder will sie hören: „Stimmt’s, Mama, der Mann ist im Gefängnis?“ Der Prozess gegen M., der nach dem Willen der Staatsanwaltschaft in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden soll, wird am Freitag fortgesetzt.

Kerstin Gehrke

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