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Berlin: Zu Herzen gegangen

Ein Mann hat Brustschmerzen und Schwindelgefühle. Eigentlich müsste er jetzt den Notarzt rufen, denn das könnte ein Infarkt sein. Doch er wartet. Vier Stunden später muss ihm ein Arzt die Gefäße mit einem kleinen Ballon an der Spitze eines Katheters weiten

Herta Girod kann sich an jedes Datum noch genau erinnern. „Das erste Mal, 1991, da haben sie mir eine verengte Stelle in einer Ader am Herzen wieder aufgemacht. Und dann zwei Jahre später, die Nachuntersuchung. Ohne Befund. 1996 habe ich meinen ersten Stent gekriegt, 2001 musste wieder mal gedehnt werden, und dann 2003 …“ Der 74-Jährigen aus Neukölln wurde schon neun mal ein Katheter bis ans Herz geschoben.

Bei jedem Eingriff hat sie die gleichen Erfahrungen gemacht. Dass der Katheter, jener zwei, drei Millimeter starke und ein Meter 50 lange blaue Plastikschlauch, durch ein Gefäß in der Leistenbeuge bis ins Herz vorgeschoben wird. Dass der Einstich ein bisschen wehtut, sie aber von dem Weg des Katheter-Führungsdrahtes durch ihren Körper nichts spürt. Und dass das Kontrastmittel, das man ihr über den Schlauch in die Blutbahnen spritzt, um die Adern auf dem Röntgenschirm sichtbar zu machen, ein klein wenig brennt und ein warmes Gefühl in der Brust verbreitet. Sie weiß auch längst, dass sie nach der Untersuchung für einen Tag einen Druckverband am Oberschenkel tragen muss, damit das verletzte Gefäß nicht nachblutet. Nichts also, was ihr noch Angst einflößen dürfte.

Doch an diesem Sonnabend, als sie zum zehnten Mal im Katheterlabor ist, dieses Mal im Vivantes-Klinikum am Urban, hat sie Angst. Sie liegt auf dem Operationstisch. Ihre silbrig-blonden Haare sind ordentlich in Wellen gelegt, die Fingernägel golden lackiert – und in ihren Augen glitzern Tränen. Über der Brust von Herta Girod steht der bewegliche Röntgenkopf des Katheter-Platzes in Warteposition. Er ist so groß wie ein Fünf-Liter-Fass. Mit diesem Gerät wird der Arzt ihren Körper von allen Seiten durchleuchten. Über der Liege hängen drei große Monitore: einer ist für die Röntgenbilder. Über den anderen flimmern Herzschlagkurven und auf dem dritten blinken Zahlenreihen.

Oberarzt Stefan Hoffmann hält beruhigend Frau Girods Hand, die heute zu ihm ins Krankenhaus gekommen ist, weil sie keine zehn Schritte mehr laufen kann, ohne sofort außer Puste zu sein.

Sie hat Angst, dass etwas mit ihrem Herzen nicht stimmt. Noch mehr aber fürchtet sie sich, weil der Doktor diesmal den Katheterzugang über den Unterarm legen will und nicht wie die meisten seiner Kollegen über die großen Gefäße in der Leistenbeuge. „Sie können dann sofort wieder aufstehen und herumlaufen“, sagt Stefan Hoffmann. Frau Girod ist schließlich überzeugt.

Schon zehn Minuten später hat sie es überstanden. Ein paar Mal ließ Hoffmann die Herzkranzgefäße von Herta Girod auf dem Bildschirm kurz aufscheinen, indem er ein Kontrastmittel einspritzte, das die Röntgenstrahlen absorbiert. Auf dem grauen Monitor ist dann für Sekunden ein dunkles Geflecht aus Adern und Äderchen sichtbar, die den Herzmuskel umgeben. Das Herz selbst aber bleibt unsichtbar.

Die Gefäße zeigen keine Verengung, die als Einschnürung deutlich erkennbar wäre. „Alles in Ordnung, Frau Girod.“

Vor ein paar Tagen, erinnert sich Hoffmann, da habe er hintereinander fünf Herzinfarkt-Patienten auf dem Kathetertisch gehabt. Bei einem Infarkt sind Gefäße nicht nur verengt, da sind sie ganz dicht. Die Muskelzellen dahinter sterben ab, die Pumpkraft des Herzens bricht zusammen. Lebensgefahr. „Die Jüngste der fünf war 32, der Älteste 52.“

Die Zeiten, als junge Menschen kaum Herzinfarkte erlitten, sind vorbei. Nicht etwa, weil immer mehr Menschen unter Stress litten, sondern weil die Deutschen zu einem Volk von Zuckerkranken werden. „Diabetes greift die Gefäße an, macht sie anfälliger für Kalkablagerungen, was wiederum zu Verengungen führt – oder zum Verschluss.“ Betroffen sind auch zunehmend Frauen.

Beim Infarkt bietet ein Katheter schnelle Hilfe: zur Diagnose, um den Verschluss zu lokalisieren, zur Behandlung, um den Verschluss zu öffnen.

Diese Hochtechnologie hat ihren Preis. Eine halbe Million Euro kostet eine komplette Anlage, leicht auch mehr.

Hoffmann findet, dass das nicht zu teuer ist. „Mit dieser Technik kann ein Arzt sehr unmittelbar Leben retten.“

Das wird dem 42-Jährigen immer wieder klar, wenn da plötzlich ein Herzinfarkt-Patient in sein Labor gebracht wird. „Ich weiß, ohne Behandlung wäre dieser Mensch nach spätestens einer halben Stunde tot.“ Doch dann, nach zehn Minuten Gefäßeweiten mit einem Spezialinstrument an der Spitze des Katheters – der Ballon – ist der Patient gerettet. „So eine Möglichkeit zu haben, ist doch ein Segen.“

Während er das sagt, bereitet sich zwölf Kilometer vom Kreuzberger Urban-Krankenhaus entfernt Oberarzt Michael Gross im Helios-Klinikum Buch auf einen solchen Notfall vor. Sein Patient – Horst Schmitt*, 78 Jahre alt, aus Pankow, akuter Herzinfarkt – wurde gerade von der Rettungsstelle in das Katheterlabor gebracht. Ein schmuckloser, zweistöckiger Zweckbau am Rand des weitläufigen Klinikareals, wo gegenüber ein Wald beginnt. Vor den Fenstern breitet sich eine sonnendurchflutete Wiese aus.

Wenige Minuten später liegt Herr Schmitt schon auf dem Tisch. Ein blaues Operationstuch bedeckt seinen Körper, nur der Kopf, die Arme und das rechte Bein ragen hervor.

Horst Schmitt hat Morphium bekommen, der starken Brustschmerzen wegen. Der Oberarzt hat einen schwierigen Fall vor sich. Zehn Minuten Gefäßeweiten reichen da nicht. Am Ende wird Schmitt über zwei Stunden hier gelegen haben, während der Arzt mit Drähten, Kanülen und kleinen Ballons in seinen Herzgefäßen hantierte. Für beide – Patient und Arzt – ist es eine Tortur. Manchmal stöhnt Herr Schmitt leise, weniger der Schmerzen wegen, sondern wegen der unnatürlichen Körperhaltung. Die meiste Zeit bittet ihn der Doktor, seine Arme über dem Kopf zu halten, damit das Röntgenbild seines Brustkorbes klar bleibt.

Oberarzt Gross steuert den Katheter behutsam von der Leiste durch die großen Körperarterien bis ins Herz. Der großgewachsene schlanke Mann hat eine kiloschwere Bleischürze übergezogen, die ihn vor den Röntgenstrahlen abschirmen soll. Immer wieder blickt er auf den Bildschirm, steuert mit einem Fußpedal den Röntgenkopf um die Brust seines Patienten herum. So kann er den Weg des Führungsdrahtes im Körper des Patienten verfolgen. An diesem Draht wird er später alle Geräte auffädeln, die er für die Behandlung benötigt, und sie an die Stelle führen, wo sie gebraucht werden.

Der 46-jährige Arzt habe „ein Gefühl für den Draht“, sagen Kollegen über ihn mit einer gewissen Bewunderung. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen verzichtet Michael Gross auf das kleine geflügelte Endstück, dass die leichten Drehungen des Drahtes zwischen den Fingern erleichtert, um ihn durch die Gefäße zu bugsieren. Gross dreht direkt an dem nicht mal Spaghetti-starken Metallstift. „Ich brauche das unmittelbare Gefühl“, meint er.

Immer und immer wieder spritzt Gross später ein Kontrastmittel durch die Kanüle in der Leiste seines Patienten, das durch den 1,50 Meter langen Katheterschlauch bis in die Herzgefäße gelangt und die Herzgefäße auf dem Röntgenmonitor sichtbar macht. Nur in diesem kurzen Augenblick sind auch die zahlreichen Einschnürungen in Schmitts Gefäßen zu erkennen. Hierhin muss Gross den Katheter führen, an dessen Spitze der kleine Ballon sitzt und darauf wiederum der Stent – ein wenige Millimeter dickes rundes Stück Metallgewebe, das einer Rolle Maschendrahtzaun ähnelt. Hat Gross die Verengung erreicht, drückt er Kontrastmittel in den langgestreckten winzigen Ballon. Der dehnt sich aus und drückt dabei den Stent auseinander. Der bleibt aufgeklappt und hält die Engstelle offen.

Doch Herr Schmitt litt unter zahlreichen Engstellen. Diese entstehen im Lauf von Jahren, weil sich Fett und Kalk an den Gefäßwänden anlagern. Die Folgen: Atemnot und Leistungsabfall. Vor allem aber haben diese Engstellen Schmitts Infarkt-Risiko erhöht. Ein Infarkt ist der plötzliche Verschluss eines Gefäßes, der zum Beispiel dann entsteht, wenn sich an einer Engstelle ein Klümpchen zusammengeballter Blutplättchen verfängt.

Horst Schmitt hat Glück gehabt, obwohl er trotz der fast unerträglichen Schmerzen viel zu lange gezögert hatte, bis er ins Krankenhaus gekommen war – vier Stunden, nachdem um 7 Uhr morgens die ersten Symptome aufgetreten waren. Denn die ersten zwei Stunden nach einem Infarkt sind die entscheidenden. „Sein Herzmuskel hat zwar was abbekommen,“ sagt Oberarzt Gross. „Aber für die Aktivitäten eines 78-Jährigen wird dessen Leistungskraft schon noch reichen.“ Jetzt muss Schmitt aber erst einmal übers Wochenende auf die Intensivstation der Klinik, zur Beobachtung.

Es passiert gar nicht so selten, dass die Betroffenen zu lange warten, bevor sie den Notarzt rufen. Sie ignorieren die Schmerzen im Brustkorb, die bis in den Unterkiefer ausstrahlen können, die Atemnot, den Schwindel oder die Übelkeit. Wird schon wieder vorbeigehen, denken sie. Aber es geht nicht vorbei. Es bleibt und wird von Minute zu Minute gefährlicher. „Eine Stunde nach den ersten Symptomen ist ein Fünftel der Betroffenen tot“, sagt Oberarzt Stefan Hoffmann im Urban-Klinikum.

Berlin allerdings steht im bundesweiten Vergleich mit seinem Versorgungssystem für Herzinfarkt-Patienten sehr gut da. Das zeigen die Daten des Berliner Herzinfarktregisters (siehe nebenstehendes Interview). Das zeigen auch die Erfahrungen der Ärzte. „Das System der Notarztwagen hat in der Berliner Bevölkerung eine hohe Akzeptanz“, sagt Hoffmann. „Die meisten Leute wissen, dass sie sofort die Notrufnummer 112 wählen müssen.“

*Name geändert

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