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Berlin: Zu ihrem größten Treffen kamen die deutschen Linken gestern umsonst

Es hätte ein guter Tag werden können. Jetzt aber sitzt der Mann da mit seinen roten Nelken.

Es hätte ein guter Tag werden können. Jetzt aber sitzt der Mann da mit seinen roten Nelken. Bisher hatte der zweite Sonntag im Januar hier am Berliner Bahnhof Lichtenberg immer ein gutes Geschäft versprochen: Zu DDR-Zeiten sowieso, als die sozialistischen Pilger noch von Staats wegen kamen, aber auch nach der Wende, als sich die deutsche Linke auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde regelmäßig zur wohl größten Demonstration sammelte, um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu gedenken.

Gestern aber war alles anders. Die Veranstaltung wurde wegen einer Bombendrohung abgesagt. Ein polizeilich gesuchter Mann fühlt sich von der Partei in einer Mietsache im Stich gelassen und hat in einem Brief angekündigt, mit Waffengewalt gegen die Veranstaltung vorzugehen. Und da er verdächtigt wird, in einem Haus Feuer gelegt zu haben, nahm die Polizei ihn ernst.

Das lässt die Nachfrage nach den Nelken sinken. Einsfünfzig sollen sie kosten. "Was soll ich denn mit den Blumen machen?", fragt der fünfzigjährige Nelkenverkäufer jetzt achselzuckend, "vielleicht haben ja nicht alle von der Absage gehört." Tatsächlich haben sich um neun Uhr vielleicht hundert Menschen auf dem kleinen Platz vor dem U-Bahnhof eingefunden. Nicht alle wollen das Verbot hinnehmen, viele sind darüber empört, dass die PDS keinen Widerspruch eingelegt hat.

Die PDS könne ja nicht die Verantwortung für Leib und Leben der Demonstranten übernehmen, findet jedoch Gesine Lötzsch, Parteivorsitzende in Lichtenberg. Mit etwa 200 "Aktivisten", wie sie sagt, war die PDS im Einsatz, um zu informieren und vor allem zu beschwichtigen. Selbst die Vorsitzende Petra Pau hat Flugblätter verteilt, in denen besänftigend von einer "Verlegung" der Veranstaltung die Rede ist. "Deeskalationsmaßnahme", nennt das ein Parteimitglied und äußert Verständnis für den Unmut der Leute: "Das Bedürfnis ist eben sehr groß, den Tag so zu verbringen, wie man es kennt."

"Ich bin ein ordnungsliebender Staatsbürger, aber ich stelle mir da meine Fragen", sagt Achim Becker, der seit 41 Jahren hierher kommt. "Das ist das erste Mal seit 1919 - abgesehen von der Nazizeit - dass die Veranstaltung verboten worden ist." Und das ausgerechnet, nachdem Politiker in den vergangenen Wochen immer häufiger die Forderung nach weniger Kundgebungen in Berlin gestellt hatten; das sei doch auffällig.

Überall auf dem Weg vom U-Bahnhof zum Friedhof ist die Polizei präsent. Von den Dächern herab beobachtet sie das Geschehen, in Zivil mischt sie sich unter die Demonstranten, die sich dem Friedhof bis auf zwei Block nähern dürfen. In dem stetigen Kommen und Gehen sind etwa einhundert Demonstranten ständig vor der Polizeiabsperrung; ein paar rote Nelken sind in den Zaun geflochten. Wer schon so früh gekommen ist, ist zumeist schon jenseits der Fünfzig und trägt als Insignie des Alt-Genossen Prinz-Heinrich- oder Baskenmütze.

Die Rechnung für die Reise solle man doch an Frau Pau schicken, meint einer, der sich am Morgen um 6 Uhr 13 in Frankfurt / Oder in den Zug gesetzt hat. Frau Pau verdiene doch genug als Abgeordnete. "100 000 gegen einen Verrückten! Keiner kann das einsehen. Der Demokratie wurde hier Schaden zugefügt, der nicht wieder gutzumachen ist", meint der 63-Jährige schließlich und findet damit Zustimmung bei all denen, die jetzt nicht wissen, was sie mit ihrem liebgewordenen Gedenktag machen sollen.

Wohin sollen sie auch gehen? Zu der traditionsgemäß krawallträchtigen Demonstration, die am gleichen Tag um 10 Uhr am Frankfurter Tor in Mitte beginnt, zieht es die meisten der Alt-Genossen jedenfalls nicht. Ein Ehepaar will da nicht hin, "wo die Autonomen Polizeiautos umwerfen und Bambule machen. Wir wollen nur unsere Blumen ablegen."

Rote Nelken sind um 9 Uhr 45 in der U-Bahn für eine Mark zu haben. Weil der Bahnhof Frankfurter Tor gesperrt ist, ergießt sich schon eine Station vorher ein Schwall Jeans- und Lederjackenträger auf die noch verschlafene Straße. Die Polizei erwartet sie mit einem Großaufgebot an Wannen. Zur "eigenen Sicherheit" der Demonstranten fordert sie über Lautsprecher immer wieder dazu auf, auf die "Gedenkveranstaltung" zu verzichten. Dafür erntet sie Pfiffe, aber dann trollt sich selbst eine Gruppe skandinavischer Autonomer. Ein paar ältere DKP-Mitglieder singen zu Gitarrenklängen: "Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren, zum Kampf sind wir bereit" - und zieht friedlich Richtung Innenstadt ab. Polizisten fordern eine Gruppe serbische Frauen auf, ihre jugoslawische Fahne einzurollen; jemand ruft "Scheiß Nazis", ein junger Beamter drangsaliert einen Journalisten - die übliche Folklore.

Ratlosigkeit macht sich unter den Demonstranten breit, einzeln versprengte Schwarzgekleidete suchen ihre Kumpel. Die Eheleute Wächter aus Thüringen, die regelmäßig kommen, seit sie Rentner sind, haben ihre Busgruppe verloren. Dem jungen Autonome aus Eisenach geht es ähnlich. Zu dritt stehen sie an der Kreuzung Frankfurter Tor und wissen nicht so recht, was sie in der verbleibenden Zeit tun sollen. Erst um 16 Uhr fährt der Bus wieder heimwärts. Vielleicht gehen sie noch mal zum Friedhof.

Dort ist um 11 Uhr an der Polizeiabsperrung ein Schalmeienorchester aus Schwäbisch-Hall aufgezogen und verbreitet mit ihren Instrumenten ein bisschen Volksfeststimmung inmitten der Ratlosigkeit, die auch die hier Anwesenden befallen hat. Als die Musiker zur "Internationalen" ansetzen, fallen einige der Anwesenden mit Gesang ein, eine Frau deutlich jenseits der Sechzig reckt als erste die geballte Faust. Das wird den anwesenden Polizisten dann doch zu viel; zwei Beamte bauen sich vor dem Orchester auf, einer versucht, den Arm der Frau herunterzudrücken. Endlich scheint ein revolutionärer Hauch in der Luft zu liegen, und tatsächlich beginnen die vielleicht fünfzig Umherstehenden, "Wir sind das Volk" zu skandieren. Die Einsatzkräfte einigen sich jedoch mit den Schalmeinspielern darauf, dass die jetzt erst einmal Pause machen; später könnten sie dann weiterspielen. Um 13 Uhr, als die Veranstaltung normalerweise zu Ende gewesen wäre, bricht endlich auch die PDS ihre Zelte ab. Im Großen und Ganzen ist es friedlich geblieben, im U-Bahnhof sind die Preise für rote Nelken auf zwei Stück für eine Mark gefallen. Bei einem Einkaufspreis von acht Mark für zwanzig Blumen deckt das für die Verkäufer gerade mal die Kosten. Es hätte ein guter Tag werden können.

Alexander Pajevi¿c

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