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Ab 27. Oktober ist es soweit: Dann werden die Abgeordneten offiziell ihre Sitze im Parlament an der Niederkirchnerstraße beziehen.

© Thilo Rückeis

Zum ersten Mal im Berliner Parlament: Wir sind die Neuen im Abgeordnetenhaus

Nach der Wahl müssen sich neben erfahrenen Politikern auch Neulinge im AGH zurechtfinden. Wir haben sechs erstmals gewählte Abgeordnete getroffen und sie nach ihren Vorstellungen gefragt.

Die Wahl ist vorbei, die Koalitionsgespräche laufen und am Donnerstag konstituiert sich der Berliner Landtag offiziell. Die 160 Abgeordneten müssen sich in ihre Rolle einfinden.

Für sie alle gilt: Sie müssen sich nicht komplett von ihrem bisherigen Leben verabschieden. Anders als der Bundestag und die meisten Landtage ist das Abgeordnetenhaus ein Teilzeitparlament. In der Regel arbeiten Abgeordnete nebenher, in Teilzeit oder mit weniger Stunden. Arbeitgeber sind verpflichtet, sie freizustellen. Regelmäßig müssen zu Fraktionssitzungen, den Ausschüssen und dem Plenum zusammen. Außerdem unterhalten sie in der Regel ein Wahlkreisbüro.

Was bekommen die Parlamentarier dafür?

Sie erhalten eine Aufwandsentschädigung von derzeit 3601 Euro monatlich, die versteuert werden muss. Dazu kommen 3021 Euro Budget für bis zu drei Mitarbeiter und 2518 Euro (nicht steuerpflichtig) für die Unterhaltung eines Büros.

Bleiben sie unentschuldigt einer Parlaments- oder Ausschusssitzung fern, werden ihnen 50 bzw. 25 Euro gestrichen. Büroeinrichtung können sie sich mit bis zu 5000 Euro pro Legislatur erstatten lassen – wenn sie die angefallenen Kosten nachweisen.

Falls sie die nächsten neun Jahre ihr Mandat behalten, erhalten sie ab dem 64. Lebensjahr einen Altersanspruch von 35 Prozent der Abgeordnetenentschädigung. Bleiben sie kürzer, zum Beispiel nur eine Wahlperiode, erhalten sie eine sogenannte Versorgungsabfindung.

Wer ist drin und wer ist neu?

Für etliche von ihnen ist all das neu: 69 Politikerinnen und Politiker sitzen zum ersten Mal in einem Parlament. In die SPD-Fraktion treten elf Abgeordnete ohne Parlamentserfahrung ein, in die der CDU vier, in die der Grünen neun, in die der Linken 13 und in die der FDP sieben. Alle 24 Vertreter der AfD haben zum ersten Mal ein Landtagsmandat inne, ebenso wie der fraktionslose Kay Nerstheimer, der ursprünglich für die AfD angetreten war. Eine oder einen aus jeder Fraktion stellen wir auf den folgenden Seiten vor.

Bettina König, SPD: "Die kann gut mit Menschen"

Sie will endlich etwas gegen die Lohnungleichheit tun: Bettina König, SPD.
Sie will endlich etwas gegen die Lohnungleichheit tun: Bettina König, SPD.

© Mike Wolff

Name: Bettina König
Alter: 38
Partei: SPD
Versuche, in ein Parlament zu kommen: 2
Was mich umtreibt: Faire Arbeit, Lohnunterschiede, Integration.
Das wird sich ändern: Dass ich mich zu Hause umorganisieren muss und in politischen Abläufen leben werde.
Das will ich lernen: Geduldiger sein.

Am Ende fehlten Bettina König 50 Stimmen, um im Jahr 2011 mit einem Direktmandat ins Abgeordnetenhaus zu kommen. "Ich war wirklich sehr enttäuscht." Dieses Jahr fehlten ihr wieder 50 Stimmen, geschafft hat sie es trotzdem – weil sie in der Zwischenzeit auf der Parteiliste hochgerutscht war. Endlich!

Knapp eine Woche nach der Wahl, an einem sonnigen Samstagmittag, steht die 38-Jährige auf dem Mittelstreifen der viel befahrenen Residenzstraße in ihrem Wahlbezirk Reinickendorf-Ost. Jetzt, da König ihr Ziel erreicht und ihre Partei eine Führungskrise hat, wird erst einmal aufgeräumt: Die Plakate aus dem Wahlkreis müssen verschwinden. Ausgerüstet mit Gartenschere und Aluleiter, an der Seite ein paar treue Genossen, zwickt Bettina König ihr eigenes Konterfei von Laternen entlang der Straße. Autos rauschen vorbei, alle zwei Minuten dröhnt ein Flugzeug über die Köpfe. Hin und wieder hupt hier ein Bekannter, winkt ein Wähler. Im Wahlkampf hatten viele sie direkt geduzt, man kam schnell ins Gespräch. Ein Parteifreund sagt: "Die Bettina kann einfach gut mit Menschen."

Der Wahlkampf ist geschafft, jetzt geht es um's Organisatorische

Die haben ihr in den vergangenen Wochen am Wahlstand allerdings auch einiges abverlangt: "Ich habe selten so viele Anfeindungen erlebt", sagt König. Auf Facebook gab es Drohungen gegen ihre Familie. Vor allem das Thema Flüchtlinge sei extrem aufgeladen gewesen. "Hier in Reinickendorf-Ost leben viele alteingesessene Deutsche, viele haben Verlustängste", sagt König. Für Protestwähler ist sie ein Teil der verhassten Politikmaschinerie, der etablierten Parteien. Grantigen Passanten entgegnete sie: "Sag, was gefällt dir nicht, ich bin doch hier, ich höre zu, ich nehme es mit ins Abgeordnetenhaus." Das ist ihre Strategie, dem Politikverdruss und dem zunehmenden Elitenhass zu begegnen: "Mit den Leuten reden", das wiederholt sie noch häufig an diesem Tag. Deswegen will sie auch ihr Wahlkreisbüro möglichst an der Residenzstraße einrichten. Der Kiez ist von hoher Arbeitslosigkeit, Spielhallen und der Abwanderung attraktiver Läden geprägt. Und natürlich von der Nähe zum Flughafen Tegel. Während sie die Straße hinunter Richtung Franz-Neumann-Platz läuft, zeigt sie auf das ein oder andere leerstehende Geschäft. "Die Lage wäre gut, der Laden ist aber zu groß." 1000 Euro Pauschale erhält sie für das Wahlkreisbüro. Doch wie viel Zeit wird sie da überhaupt verbringen können? Bettina König arbeitet für das Deutsche Rote Kreuz in der Öffentlichkeitsarbeit. Und schließlich sind da ja auch noch die Töchter, die sie auch in Zukunft, so oft es geht, sehen will.

König hat ein Alleinstellungsmerkmal

Frau König, warum tun Sie sich das an? Sie könnten doch auch einfach in einer Bürgerinitiative mitmachen, oder in einer NGO! "Ich will die Gesellschaft vielfältig mitgestalten, das geht nur in einer Partei, anderswo wäre ich zu sehr auf ein Thema fixiert." In der SPD wird sie dem linken Flügel zugerechnet, sie hegt durchaus Sympathien für die Linke. "Aber außenpolitisch sind mir viele ihrer Ziele zu – ich sage mal – utopisch." Vor acht Jahren ist sie, der Vater bereits Sozialdemokrat, eingetreten und hat sich gleich drei Jahre später für Reinickendorf-Ost zur Wahl gestellt. Heute sieht sie ihr Scheitern bei der letzten Abgeordnetenhauswahl positiv. "In den fünf Jahren habe ich viel gelernt, bin sicherer geworden im Auftreten, habe mich in meine Themen intensiv eingearbeitet." Ihre Themen: faire Arbeitsbedingungen, Lohnunterschiede, Betreuungsangebote. Innerhalb der Partei im Bezirk konnte sie herausstechen, sagt ein Parteikollege aus der BVV: "Sie ist weiblich, alleinerziehend, jung, das ist gewissermaßen ihr Alleinstellungsmerkmal – und sie hat einen guten Stand in der Partei." König stimmt, auf eine Weise, zu: Ich würde mir wünschen, dass es in der Reinickendorfer SPD mehr Frauen gibt." Bettina König glaubt auch grundsätzlich, dass sich in der SPD nach den historisch schlechten 21,6 Prozent vom Wahltag einiges ändern muss: "Jetzt müssen wir das Ergebnis inhaltlich debattieren. Wir müssen präsenter auf der Straße sein, aufklären, mit den Leuten reden." Der Politsprech, in den König manchmal – wie auch jetzt – verfällt, könnte dabei hinderlich sein. Ein Büro an der Residenzstraße könnte dagegen helfen.

Stephan Standfuß, CDU: Die Tennisrunde braucht Ersatz

Hofft, dass nichts zu kurz kommt: Stephan Standfuß, CDU
Hofft, dass nichts zu kurz kommt: Stephan Standfuß, CDU

© Mike Wolff

Name: Stephan Standfuß
Alter: 44
Partei: CDU
Versuche, in ein Parlament zu kommen: 1
Was mich umtreibt: Innere Sicherheit, Bildung, Wirtschaft, Sport.
Das wird sich ändern: Mehr Arbeit bis in die Nacht, für Firma und Wahlkreis.
Das will ich lernen: Wie Berlin auf allen Ebenen im Detail verwaltet wird.

Irgendwo in Stephan Standfuß muss sich eine große Menge Trotz verbergen. Seine Lehrerin im Politikunterricht damals, "die schien mir eher aus dem linkeren Teil des politischen Spektrums zu kommen", sagt der 44-Jährige. Und sie habe ihn ein bisschen zu arg missioniert. Da habe er gegengehalten und dieser Widerspruch musste eben von rechts kommen. Nun gehört es zum guten Ton unter Konservativen, von Alt-68er-Lehrern zu erzählen, die ihre Schüler mit Ideologie triezten. Nicht viele sagen aber, sie wären womöglich erst einmal in der SPD gelandet, hätten sie seinerzeit einen konservativen Lehrer gehabt. Standfuß schon: "Damals hätte mir das gut passieren können, ja."

Es kam anders, Standfuß ging zur Jungen Union, da studierte er bereits Jura, wurde gefragt, ob er nicht in die CDU kommen wolle. Er wollte. Und er kam. Und er blieb. Dann sagte jemand, so erzählt er es, du wirst nie Ortsvorsitzender. Dann wurde er Ortsvorsitzender der CDU in Düppel.

Das ist der trotzige Stephan Standfuß in den Erzählungen des nicht übermäßig trotzig wirkenden Stephan Standfuß. Der trägt Jeans und Pullover, wohnt mit Frau und Kindern in Steglitz-Zehlendorf, ist stellvertretender CDU-Vorsitzender in Steglitz-Zehlendorf, Bürgerdeputierter in der Bezirksverordnetenversammlung von Steglitz-Zehlendorf und, wie erwähnt, Ortsvorsitzender der CDU Düppel in Steglitz-Zehlendorf. Und auch seine Firma sitzt nicht weit entfernt. Er hat sie noch während des Studiums aufgebaut, das er nie beendet hat. Seit fast zwanzig Jahren macht er Systemadministration, Technikhilfe für Firmen. Gelernt hat er wie viele seiner Generation beim Basteln am Commodore 64, sagt er.

Genau dieser Wahlkreis sollte es sein

Warum er jetzt zum ersten Mal fürs Abgeordnetenhaus kandidiert hat? Der Wahlkreis sei erst jetzt frei geworden, nach dem Rückzug von Michael Braun, und genau diesen Wahlkreis habe er vertreten wollen, da kenne er sich aus. Da sprechen ihn Menschen an, wenn er am Wannsee segeln geht. Standfuß, einer von nur vier neuen Abgeordneten der gebeutelten CDU, hat seinen Wahlkreis gewonnen, wenn auch mit großen Verlusten.

Damit hat er noch ein neues Amt, aber das bekomme er auch hin, sagt er, er habe das ja im Wahlkampf schon so ähnlich erlebt. In die Firma wolle er jemanden holen, der ihn als Techniker vertritt. Kundenbetreuung will er weiter selbst machen, auch um finanziell unabhängig zu bleiben. Gibt er dann andere Ämter auf? "Das ist nicht geplant. "Was dann zu kurz kommen werde? "Nichts, hoffe ich." Sogar die Tennisrunde mit alten Bekannten im Winter hat er wieder zugesagt. Er habe allerdings diesmal darum gebeten, dass ein etwaiger Ersatz bereit steht. Er sagt, er brauche nur fünf bis sechs Stunden Schlaf pro Nacht.

Erste Lektion: Posten werden früh verteilt

Standfuß spricht viel über Eiben vor Gaststätten, über Gehsteige, über einen Zebrastreifen, der erst nach zweieinhalb Jahren gebaut wurde, über das Hundeverbot am Schlachtensee, über Autoradiodiebstähle in seinem Bezirk und darüber, dass es die Leute in den Wahnsinn treibe, wenn sie das Gefühl haben, ihr Park verlottere. Als Abgeordneter wolle er auf jeden Fall engen Kontakt zur Bezirksverordnetenversammlung halten. Aber Standfuß will auch wahrgenommen werden mit großen Themen: Wirtschaft, innere Sicherheit, Bildung. Man brauche mehr Polizei. Lehrer sollten verbeamtet werden, als Motivation, in Berlin zu bleiben. "Ich kenne natürlich die Gegenargumente", sagt er – Lehrer würden sich dann ausruhen, wären erst recht unmotiviert – "aber ich glaube erst einmal, dass Menschen gut sind".

Diese großen Themen würde er gerne auch im Ausschuss bearbeiten. Ob er darf? Der Fraktionschef hat ihn wie alle zum Einzelgespräch geladen. Aber Standfuß sagt, andere hätten sich schon vor der Wahl um Posten gekümmert. "Da sind wir Neulinge nächstes Mal ein Stück schlauer."

Doch wo wir grad bei großen Themen sind: Herr Standfuß, was ist eigentlich mit dem Sexismus in der CDU? Also, den gebe es bestimmt, sagt Standfuß. "Aber man kann Frauen auf Augenhöhe begegnen. Ich habe das immer getan." Schon damals bei der Alt-68er-Lehrerin war das ja so.

Georg Kössler, Grüne: Der Thunfisch im Haifischbecken

Georg Kössler ist mit 31 zwar ein junger Abgeordneter, aber längst nicht der jüngste: Die Parteikollegin June Tomiak ist mit 19 Jahren ins Berlin Parlament eingezogen.
Georg Kössler ist mit 31 zwar ein junger Abgeordneter, aber längst nicht der jüngste: Die Parteikollegin June Tomiak ist mit 19 Jahren ins Berlin Parlament eingezogen.

© Mike Wolff

Name: Georg Kössler
Alter: 31
Partei: Grüne
Versuche, in ein Parlament zu kommen: 1
Was mich umtreibt: Klimaschutz, Radfahren, Mieten.
Das wird sich ändern: Dass ich meine Zeit flexibler und verantwortungsbewusster einteilen muss.
Das will ich lernen: Nicht alles zu nah an mich herankommen zu lassen.

Er kommt natürlich mit dem Fahrrad zum Abgeordnetenhaus. Im Casino bestellt er Club Mate. Alles wirkt abgeklärt, souverän, man merkt Georg Kössler nicht an, dass er erst zum zweiten Mal hier ist. Aber kein Wunder: Kössler kennt sich aus in der großen Politik. Als Referent für Klima- und Energiefragen im Bundestag hat der 31-Jährige internationale Klimakonferenzen begleitet und sich einen Namen als Klimaschutzexperte gemacht: "Die Abläufe im Bundestag sind extrem professionalisiert." Jetzt wird er sich daran gewöhnen, dass im Berliner Abgeordnetenhaus alles eine Nummer kleiner ist. Aber das findet er gut: "Hier beschließt man nicht eine halbe Milliarde für Radwege, die man dann verteilt, sondern hier geht’s darum, wo der Radweg gebaut wird."

"Am liebsten würde ich sofort loslegen"

Wenn Georg Kössler, künftiges Mitglied der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, dann in seinem grauen Kapuzenpulli und der braun gefleckten Brille mit suchendem Blick durch die langen Flure geht, wirkt er aber doch ein bisschen verloren. "Ich verlaufe mich noch", sagt er, als er im obersten Stock ankommt. Den wichtigsten Raum der Fraktion, die Teeküche, habe er aber bereits gefunden, sagt Kössler, der jetzt kurz mal breit grinst, bevor es weitergeht. Hier und da steckt er den Kopf in ein Büro, sagt "Hallo" oder auch mal "Hallo, ich bin der Georg" und freut sich diebisch darüber, dass er schon ein eigenes Postfach hat. "Jetzt bin ich wohl offiziell Teil davon. Am liebsten würde ich sofort loslegen – zum Finanzamt rennen, weil ich mit meinen Diäten nichts falsch machen will." Gut findet er, dass er schon ein paar Leute im Haus kennt. Sein vorläufiger Bürokollege ist ein langjähriger Grünen-Freund und schwärmt von Kösslers Redetalent. Ob immer alles so freundlich bleibt? Georg Kössler, der Profi, der sagt, dass er es schon gewöhnt sei, zwischen streitenden Chefs zu vermitteln und Kompromisse auszuhandeln, ist auch wachsam: "Natürlich ist die Politik ein Haifischbecken, aber ich habe mir das jetzt schon ein paar Jahre angeguckt, und hoffe, dass ich da nicht gefressen oder selber zum Haifisch werde". Sein Ziel: "locker als Thunfisch langschwimmen". Umweltthemen haben Georg Kössler schon als Teenager auf die Straße gezogen, 2005 trat er in die Grüne Jugend ein, in seinem Bezirk Neukölln kämpft der gebürtige Berliner für mehr Fahrradwege, Grünflächenerhaltung und Milieuschutz. Für seinen Kiez hat er auch schon ein Vorhaben im Abgeordnetenhaus: Er will erneuerbare Energien in einem "Solarmasterplan" stärker fördern. Geht es nach Kössler, sollen mehr Mieter Solaranlagen auf den Dächern installieren und daraus ihren Strom beziehen können.

"Die hassen uns"

Sorgen macht ihm derweil die AfD, die auch bald ihre Büros beziehen wird. "Ich weiß ehrlich nicht, wie ich mit denen hier umgehen soll", sagt Kössler. Und das liegt gar nicht einmal nur daran, dass er, natürlich, viele AfD-Positionen strikt ablehnt: "Alles, was ich von der AfD mitbekomme, ist, dass sie uns Grüne hassen. Auch deswegen sehe ich eigentlich keine Gesprächsgrundlage." Wie die Partei mit der AfD umgeht, werde aber in den kommenden Wochen intern diskutiert. "Meine Angst ist, dass Deutschland immer mehr wird wie die USA, ganz krass gespalten. Oder wie Frankreich, wo eine rechtspopulistische Partei als normal im Parteiensystem angesehen wird. Deswegen ist es unsere Aufgabe, die AfD zu entzaubern." Wie? "Das müssen wir jetzt besprechen."

Obwohl das Parlament ein Teilzeitparlament ist, wird er seinen Job im Bundestag, den er mittlerweile halbtags macht, weiter reduzieren oder aufgeben. "Ich weiß, dass viele Mitglieder des Abgeordnetenhauses nebenher noch arbeiten, aber ich sehe das im Moment für mich nicht. Alle sagen mir, dass das hier eigentlich 50- bis 60-Stunden-Wochen sind. Da bin ich vorsichtig, auch aus Respekt vor dem Mandat." Und etwas Freizeit soll ja auch nicht schaden. Für Freundin und Freunde und um mal in Neukölln am Kanal zu sitzen und zu lesen. Oder um beim Bouldern den Kopf auszuschalten. "Wenn du da in der Wand rumkletterst, kannst du einfach nicht über den letzten Antrag nachdenken, den du eingereicht hast."

Marc Vallendar, AfD: Mann ohne Illusionen

Trägt eine Deutschlandfahne am Revers: Marc Vallendar, AfD
Trägt eine Deutschlandfahne am Revers: Marc Vallendar, AfD

© Mike Wolff

Name: Marc Vallendar
Alter: 30
Partei: AfD
Versuche, in ein Parlament zu kommen: 1
Was mich umtreibt: Euro-Rettung, Verwaltung.
Das wird sich verändern: Fürs Privatleben wird weniger Zeit sein. Aber ich bin seit einiger Zeit Single.
Das will ich lernen: Bessere Reden vor großem Publikum zu halten.

Wenn ein Parlament neu besetzt wird, sind die Plätze in den Ausschüssen innerhalb der Fraktionen umkämpft. Marc Vallendar, AfD, 30 Jahre, Listenplatz 13, nicht ganz hinten, aber auch nicht weit vorne, stellvertretender Vorsitzender der Jungen Alternative Berlin, aber nicht Vorsitzender, Marc Vallendar also möchte in den Innenausschuss. "Aber das wollen fast alle in der Fraktion." Also werden andere den Vortritt bekommen – und Vallendar? "Ich werde dann wohl in den Verfassungsausschuss müssen". Da sei ein Volljurist wie er sehr gut aufgehoben.

Er fürchtet die Isolation

Vallendar gibt sich auch sonst keinen Illusionen hin. Er fürchte, sagt er, dass die anderen Fraktionen seine Partei schneiden werden, isolieren, sogar innerhalb der Opposition. Vielleicht könne man hinter den Kulissen zusammenarbeiten. Öffentlich würde man gewiss auf Distanz bleiben, sagt er, am Revers ein Deutschlandfähnchen.

Zunächst sind aber Mitarbeiter das große Thema bei der künftigen AfD-Fraktion – er selbst hat schon eine Kandidatin im Blick, er kennt sie aus der Jungen Alternative, bald will er alles mit dem Abgeordnetenhaus klären. In einer blauen Plastikmappe mit transparentem Deckel trägt Vallendar die Tagesordnung für die Fraktionssitzung an diesem Tag, dazu Parlamentsrichtlinien, eine Immobilienanzeige für ein Wahlkreis-Büro. "Ich bin recht diszipliniert", sagt er, dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, hellblaue Krawatte.

Und beständig: Vallendar zog im Grundschulalter nach Berlin, weiterer Lebensweg: Abitur, Bundeswehr, Jura in Potsdam, Referendariat wieder in Berlin, seit einem Jahr eine Anwaltskanzlei in Charlottenburg. Er sei aber auch im Land herumgekommen, als Soldat und als Verbindungsstudent, nach Göttingen, Erlangen, Marburg.

Große Kanzler? Brandt und Schmidt

Im Studium trat er der FDP bei. Die Eurorettungspolitik hat ihn zur AfD gebracht. Politische Idole: Gustav Stresemann; Robert Blum; Graf Stauffenberg. Irgendjemand aus der jüngeren Vergangenheit? "Ich finde, Helmut Schmidt und Willy Brandt waren auch große Kanzler." Wie jetzt, nicht Adenauer oder Kohl? "Adenauer war auch gut. Kohl hatte schon seine Schwächen." Eigentlich werde aber sowieso nur Merkel in die Geschichte eingehen als schlechte Kanzlerin. Wegen der Euro-Rettung und der Flüchtlingspolitik, die Vallendar oft kritisiert, ohne dabei scharf im Ton zu werden. Er fordert Sammellager für Asylbewerber auf Inseln. Er träumt von der AfD als Volkspartei und einem Europa der Nationen, alles rückgebaut und subsidiär – und dann zurückziehen aus der Politik, so wie der Brite Nigel Farage, wenn der Job erledigt ist, da lacht Vallendar ganz kurz.

Aber welches Ziel hat jemand wie er, ein womöglich von den anderen Fraktionen isolierter Oppositionspolitiker, hier und heute? Was will er anstoßen, woran soll man sich erinnern, wenn man in fünf Jahren an ihn denkt? Er habe da schon Material, in das er sich einlesen wolle. Vallendar klopft auf seinen blauen Plastikhefter. Er könnte sich dafür einsetzen, dass Stadträte einen verbeamteten Profi als Beisitzer bekommen. Und dann gibt es noch ein Ziel, ein wagemutiges: "Es wäre schön, wenn wir die Landesregierung überzeugen können, dass Tegel offen bleibt." Gemeinsam mit der FDP.

Anne Helm, Linke: Die will nerven

Hat sich Unterlagen der Piraten besorgt: Anne Helm, Die Linke
Hat sich Unterlagen der Piraten besorgt: Anne Helm, Die Linke

© Mike Wolff

Name: Anne Helm
Alter: 30
Partei: Die Linke
Versuche, in ein Parlament zu kommen: 3
Was mich umtreibt: Asyl, Integration, Inneres, Mieten.
Das wird sich ändern: Meine zwei Katzen werden zu kurz kommen.
Das will ich lernen: mir nicht alles aufzuhalsen.

Für Anne Helm beginnt jetzt das große Einfuchsen. "Da muss ich mich noch einfuchsen", sagt sie, wenn es um die Arbeit im Abgeordnetenhaus geht. Darum, was man als neue Abgeordnete so tun kann und darf und muss. "Das muss ich von der Pike auf lernen." Zuerst aber, als sie ins Geschäftszimmer der Linksfraktion kommt, sagt sie: "Hallo, Anne Helm, ich bin neue …" Abgeordnete.

Wissen sie, die anderen. Alles noch etwas neu, alles etwas unbekannt. Fast alles, denn es sind auch vertraute Menschen da. Fabio Reinhardt läuft in der riesigen Empfangshalle in sie hinein. Die beiden umarmen sich kurz. "Fabio, von der ehemaligen Piratenfraktion", stellt sie ihn vor. "Von der aktuellen Piratenfraktion", korrigiert er trocken.

Die heimliche Prominente

Noch ist das alte Abgeordnetenhaus im Amt – und mit ihr die Piratenfraktion. Aber für Anne Helm ist die Piratenpartei Vergangenheit. Sie, die davor schon politisch war, gegen Rassismus und Gentrifizierung demonstrierte, trat ihr 2009 bei, weil sie die Offenheit und der Mehr-Demokratie-Trieb ansprach. Damit bekam die Partei auch gleich ihren ersten heimlichen Promi: Nach dem Abitur hatte Helm direkt angefangen, als freiberufliche Synchronsprecherin zu arbeiten, schon als Schülerin war sie die Stimme des Schweinchens Babe, heute spricht sie etwa die Schauspielerin Amber Heard. Anne Helm bekam im Gegenzug den Zugang zur Politik: Ohne die Piraten, für die sie zur Bundestagswahl 2013 und bei der Europawahl 2014 kandidierte, wäre sie wohl nie einer Partei beigetreten, sagt sie heute.

In der Eingangshalle sind auf einer digitalen Anzeige die Termine des Tages vermerkt. Unter ihnen: Fraktionssitzung AfD, 17 Uhr.

"Daran muss ich mich erst gewöhnen, die AfD da zu lesen", sagt Fabio Reinhardt.

"Ja, das ist seltsam", sagt Helm.

Ein bisschen Resteinigkeit ist geblieben – mit dem engagierten Flüchtlingspolitiker Fabio Reinhardt vielleicht sogar ein bisschen mehr. Die Piraten hat Helm aber Anfang 2014 wieder verlassen. Zuvor gab es noch einmal großen Aufruhr um das sogenannte "Bombergate", als eine Piraten-Politikerin in Dresden "Nazis provozieren" wollte, wie diese Ex-Piraten-Politikerin es heute ausdrückt, mit einem Dank an die britische Luftwaffe auf dem nackten Oberkörper. Das war Anne Helm. Weil sie inzwischen durch Kontakte innerhalb der Politik gelernt hat, dass nicht alle etablierten Parteien so spießig und hermetisch sind wie früher mal gedacht, schloss sie sich im Frühjahr der Linken an.

Hausaufgaben von den Piraten

War das schwer, aus der basisdemokratischen Offenheit ins feste Parteigefüge zu kommen? Gar nicht, sagt sie. Bei den Piraten sei überhaupt nichts besser gewesen, nicht einmal die Darstellung im Internet. Aber nicht alles ist schlecht, was Piraten politisch tun: Von einigen hat sie sich schon Material abgeholt, auch von Reinhardt, wäre ja schade, wenn es ungenutzt bliebe. "Da habe ich einige Hausaufgaben mitgenommen."

Einerseits hat Helm Erfahrung, fünf Jahre Bezirksverordnetenversammlung Neukölln hat sie hinter sich, bis zum Schluss in der Piratenfraktion. Andererseits sei das Abgeordnetenhaus dann doch etwas anderes. Sie sei schon etwas hibbelig, so insgesamt. Und wenn sie doch mal routiniert den Text des Wahlprogramms herunterbetet, dann sagt sie vorher: "Da kann ich jetzt natürlich den Text des Wahlprogramms herunterbeten."

Untersuchungsausschuss Lageso?

Unter anderem möchte sie die kontrollieren, die entscheiden: "Ich hoffe, dass mich der Innensenator, wer auch immer es wird, am Ende als nervig in Erinnerung behält." Selbst, wenn die Linke in der Regierungskoalition ist?

"Ja."

Und dann das Lageso. Dort würde sie gern "zur Aufklärung beitragen". Das klingt nach schwerem Geschütz – und soll es auch. "Ich halte einen Untersuchungsausschuss für notwendig, ja."

Asyl und Integration, eventuell Stadtentwicklung, damit beschäftigt sich Helm am liebsten. "Aber natürlich gibt es schon viele Fachpolitiker." Falls es also das nicht wird, dann mache sie eben etwas anderes. Denn sie könne eins sehr gut, sagt sie: Wenn sie etwas für notwendig halte, dann könne sie sich schnell in Themen einfuchsen.

Bernd Schlömer, FDP: Comeback mit Hemd und Krawatte

Ob Pirat oder Liberaler, Bernd Schlömer will sich für die Digitalisierung stark machen.
Ob Pirat oder Liberaler, Bernd Schlömer will sich für die Digitalisierung stark machen.

© Mike Wolff

Name: Bernd Schlömer
Alter: 45
Partei: FDP
Versuche, in ein Parlament zu kommen: 1
Was mich umtreibt: Bürgerrechte, Digitalisierung, Verwaltung.
Das wird sich ändern: Ich werde keinen Abend mehr zu Hause sein.
Das will ich lernen: Genauer hinsehen, auch die Seite 43 von 44 lesen

Als Politiker hat Bernd Schlömer schon Erfahrungen gemacht, die andere im gesamten Lebenslauf nicht vorweisen können: Von 2009 bis 2013 war er Mitglied des Bundesvorstandes der Piratenpartei, 2012 übernahm er gar deren Vorsitz, zu dieser Zeit kamen die Piraten bei Meinungsumfragen auf bis zu 13 Prozent. Er hat die Partei auf dem Gipfel ihres Erfolgs erlebt und ist mit ihr ins tiefe Tal gegangen, als sie mit nur 2,2 Prozent aus der Bundestagswahl 2013 kam. "Ich habe quasi den Lebenszyklus einer Partei miterlebt, das war eine wahnsinnige Zeit." Wie nachhaltig prägend diese Zeit für den politischen Betrieb zumindest in Berlin ist, zeigt auch die Tatsache, dass mit Anne Helm (siehe oben) und Schlömer gleich zwei ehemalige Mitglieder im neuen Abgeordnetenhaus vertreten sind. Nach der Wahl beglückwünschte man sich gegenseitig artig via Twitter, doch im Gegensatz zu Helm, die ihre seit je linke Politik nun in der linken Partei macht, scheint Schlömer sich stärker verändert zu haben: Das lässige Halstuch, früher stets sein Markenzeichen, hat er zumindest an diesem spätsommerlichen Septembernachmittag auf der Terrasse eines Cafés in Berlin-Schöneberg eingetauscht gegen eine schwarze Krawatte. Dazu ein strahlend weißes Hemd und eine weinrote, sportliche Jacke. Seriös sieht er aus. Wie ein richtiger FDP-Politiker.

Seine Politik-Karriere schien schon beendet

Nicht lange her – 2013 war’s – da schien Bernd Schlömers politische Laufbahn beendet: die Piraten am Boden, dazu ein Bandscheibenvorfall. "Da hat der Körper sich wohl was zurückgeholt, ich war ja fünf Jahre quasi permanent unter Anspannung." Er blieb der Politik zwei Jahre fern.

Zurück kam der studierte Sozialwissenschaftler und Kriminologe, weil Freunde und Bekannte ihn motivierten: "Sie haben gesagt: Du solltest unbedingt wieder in die Politik.". Die FDP lag ihm am nächsten, weil er viele Überschneidungen mit der Piraten-Programmatik sah. Gegen "anlasslose Überwachung, für die Stärkung der Bürgerrechte" seien die Liberalen auch, "außerdem hat sich die Partei umfassend des Themas Digitalisierung angenommen". Man fragte ihn, ob er nicht für die FDP in Kreuzberg-Friedrichshain antreten wolle. Wollte er, die Landespolitik reizte ihn.

Finanzen will er offenlegen - ganz der Pirat

Bernd Schlömer, der einst die großen Linien der Piraten-Politik erklären musste, interessiert sich nun für vergleichsweise kleine Fragen: wie man ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis mit liberalen Positionen aus der Opposition kitzeln könne, und wie sich Verwaltung, auch durch Digitalisierung, effizienter gestalten lasse. Im Moment geht’s aber eh erst einmal ums Organisatorische: Private und politische Finanzen will er strikt trennen, letztere transparent machen – ein Girokonto muss her. Ansonsten verhandelt der Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium noch, wie er seinen Job im Aufbaustab Cyber- und Informationsraum weiterführt. Immerhin: Dafür, wie er im erwartbar stressigen Leben mit Beruf, Mandat und Familie die Wähler im Blick behält, hat Schlömer eine – überraschend analoge – Antwort: "Ich habe festgestellt, dass man mit Menschen sehr gut ins Gespräch kommt, wenn man Doppelkopf spielt." Zu seinen regelmäßigen Kartenabenden in Kreuzberg könnten sich auch interessierte Bürger gesellen. Für Fragen zu Zeit und Ort findet man Schlömer im Netz.

Die Textsammlung erschien zunächst am 1. Oktober als Doppelseite bei Mehr Berlin im gedruckten Tagesspiegel.

Clara Lipkowski, Jonas Schaible

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