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Berlin: Zur falschen Zeit am falschen Ort - Wie SFB-Chefredakteur Jürgen Engert mit einem "Rallye-Taxi" nachts von Warschau nach Berlin raste

Es ist dunstig, es ist nasskalt, die Abgase sind zu schmecken, die Stadt ist in eine uniforme Farbe getaucht, und die ist tiefgrau. Ein Wetter, das die Hunde den Schwanz einziehen lässt und das auch zweibeinige Frohnaturen erfahren lässt, was es bedeutet, depressiv zu sein.

Es ist dunstig, es ist nasskalt, die Abgase sind zu schmecken, die Stadt ist in eine uniforme Farbe getaucht, und die ist tiefgrau. Ein Wetter, das die Hunde den Schwanz einziehen lässt und das auch zweibeinige Frohnaturen erfahren lässt, was es bedeutet, depressiv zu sein. Warschau am 9. November 1989. Du gehst durch Straßen im Sonnenlicht, es nieselt nicht, dir begegnen nur fröhliche Gesichter und lustige Hunde, der Mann vor dem Kaufhaus kratzt wunderschön auf seiner Fiedel. Du machst die Stadt deiner Stimmung untertan.

Mit Bildern im Kopf bist du nach Warschau geflogen: Seit dem letzten Wochenende sind 50 000 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen. Damit habe sich die Zahl der Flüchtlinge im Jahr 1989 auf 200 000 erhöht. So steht es in der Zeitung. Es ist nicht die Menge, die sich dir einprägt, es sind die Einzelnen, Kinder, Frauen und Männer, in deren Mienen das Bangen und das Freuen von Entschlossenheit zusammengebunden ist. Darin unterscheiden sich die, die da aus den Zügen steigen, nicht von denen, die montags abends in Leipzig und auf dem Berliner Alexanderplatz demonstrieren. Es muss anders werden, damit es besser werden kann. Du siehst ihn doch, es war Mitte August in Erfurt, den Erich Honecker, und du hörst ihn: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf." Der kleine, schmale Professor in Leipzig sagt zur dir über die Eierschecke hinweg: "Nur dem Hoffenden blüht das Unerhoffte. Heraklit." Du weißt, was passiert, aber weißt du, was folgt? Und wenn du es nicht weißt, weshalb bist du frohgemut in Warschau? "Hier werden Sie platziert!" war in vielen Restaurants der DDR zu lesen und hinter dem Schild vor dem Speisesaal warteten die Gäste aufgereiht auf Einweisung. Jetzt treten sie aus der Reihe und suchen sich den eigenen Platz. Erich Honecker ist weg, Egon Krenz ist an seine Stelle getreten. Er ist ein Kaiser ohne Kleider und die Vielen rufen "der ist ja nackt!". Weil sie keine Angst mehr haben. So, wie es war, wird es nie mehr sein: Warschau ist an diesem 9. November 1989 eine fantastische Stadt.

Grenzenlos sind die Gefühle. Sie sind vage und sie suchen nach einem Aufhänger. In Warschau finden sie ihn. Hier ist es bereits anders und damit besser geworden. Noch ist der Mann mit dem Stützkorsett, General Jaruzelski, Ausrufer des Kriegsrechts 1981 über das Land, Präsident, neben ihm aber steht Tadeusz Mazowiecki, der Denker in der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc und Berater von Lech Walesa als Premierminister.

Heute, am 9. November 1989, wird Tadeusz Mazowiecki als Premier Helmut Kohl empfangen. Fünf Tage will der Kanzler in Polen bleiben. Deshalb bist du in Warschau. Die ARD bereitet eine große Fernsehsendung vor: "Deutsche und Polen." Ein Thema, das ein Problem ist. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", hat der Jude Paul Celan geschrieben. Nicht nur, aber vor allem haben es die Polen erfahren. Für sie ist der erste Besuch von Helmut Kohl eine Haupt- und Staatsaktion sondergleichen. Es liegt was in der Luft, und keiner kann sagen, was. Am Tag vor dem Aufbruch nach Warschau hat Kohl im Bundestag geredet: "Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland." Er sagt: "Reisefreiheit, Freizügigkeit und Zusammenarbeit werden - davon bin ich überzeugt - dazu führen, dass die Teilung Europas überwunden wird. Damit wären auch die Tage der Mauer in Berlin gezählt."

"Nichts dauert"

Der Bischof von Stettin ist nach Warschau gekommen. Er wird in der ARD-Sendung "Deutsche und Polen" auftreten. Es ist Nachmittag am 9. November 1989 in einem katholischen Heim der Vorstadt. Du fragst dich, warum dieser so überaus freundliche Mann ein solch nuanciertes, akzentfreies Deutsch spricht, und du fragst ihn. Von 1939 bis 1945 lernte er die Sprache im Konzentrationslager. Er erzählt davon, wie Mazowiecki von den Internierungslagern des Generals Jaruzelski für die Aktivisten von Solidarnosc: Ohne Groll und ohne Anklage. Es gäbe eine Gewissheit, dass nichts dauert.

Zurück im Hotel "Mariott". An diesem Abend ist der Bundeskanzler von Premier Mazowiecki zu einem Bankett in das ehemalige Palais des Fürsten Radziwill geladen. Journalisten haben sich auf den Weg gemacht, du bist im Hotel geblieben. Im Zimmer ist das österreichische Fernsehen zu empfangen. Günter Schabowski verliest auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin die Mitteilung, dass die Bürger reisen und ausreisen dürfen, und das von sofort an. Du sitzt vor dem Apparat. Und es dauert eine ganze Weile, bis das Gehörte begriffen ist, und dennoch: Du kannst es nicht fassen. Raus aus dem Sessel, du musst mit jemandem reden, raus auf den Gang. Hier stehen Kollegen, abgebrüht, gemeinhin, Teflonhaut, von keinem Donnerschlag zu rühren, jetzt sind sie für Minuten keine Profis mehr, sie sind nur staunendes Publikum. Du stürzt mit ihnen die Treppe hinunter: Kohl ist da! Den Berg umbranden ungezählte Fragen. Seine Entourage sagt: Kohl habe beim Essen wie auf Kohlen gesessen. Die Nachricht von Schabowskis Pressekonferenz habe ihn schon vor dem Tafeln mit Mazowiecki aus Bonn erreicht.

Die ARD überträgt die improvisierte Pressekonferenz in den "Tagesthemen". Der Mensch als Berg, er schafft sich Platz, und er strömt Ruhe aus, denn wie es in ihm aussieht, ist nicht zu erkennen. Kohl preist die Ungarn und die Polen, sie hätten sich auf den demokratischen Weg gemacht, vorbildlich, und er schlägt den Bogen hin zur DDR. Die Gastgeber, die empfindsamen, nicht beiseite schieben, deshalb habe er Mazowiecki vorgeschlagen, den Besuch zu teilen, ihn nicht abzubrechen, abzureisen und wiederzukommen, denn heute habe er das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Du musst weg, nichts wie weg. Der Produktionsleiter sagt: Die Flüge für den nächsten Tag sind total ausgebucht. Du wirst hektisch: Weg, nichts wie weg, und das sofort. Aber wie? Unerträglich ist die Vorstellung: Die Mauer in Berlin ist auf und du sitzt im Hotel "Mariott" in Warschau. Fritz Pleitgen wollte heute Abend hier sein. Er bleibt in Köln und fliegt morgen früh nach Berlin. Du beneidest ihn. Es ist eine halbe Stunde nach Mitternacht. Was ist mit unserem polnischen Fahrer, dem Taxichauffeur, der uns durch die Stadt kutschiert? Hat er Telefon? Hat er. Hat er einen Auslandspass? Hat er auch. Spannt er an? Tut er. Der Produktionsleiter, der immer Appetit hat, hat auf dem Markt Salzgurken und Landjäger eingekauft.

Und dann war der Tank leer

Mit Salzgurken und Landjäger warten auf den Toyota-Diesel. Der Fahrer fährt nicht nur Taxi, er fährt auch Rallyes. Und das sagt er nicht nur, das beweist er auch. Wir kacheln durch Warschau, die Stadt liegt hinter uns, leere Landstraßen im Licht der aufgeblendeten Scheinwerfer. Suche im Radio nach einem deutschsprachigen Sender. Keiner ist zu finden. Warum kann das Auto nicht fliegen? Salzgurken und Landjäger. Eine verrückte Mischung. Aber kauen ist besser als bloß still sitzen. Plötzlich Alarm. Der Diesel geht zu Ende. Ein Rallyefahrer kennt sich aus. Eine Tankstelle, eine zweite, eine dritte: Jeweils lange Schlangen von Lastwagen davor, die Fahrer schlafen hinter ihrem Lenkrad und warten darauf, das geöffnet wird, was geschlossen ist. Du hast ein Auto, du hast einen Chauffeur, und nun bleibst du stecken wegen eines leeren Tanks. Und in Berlin wird Geschichte gemacht. Dich packt die Verzweiflung. Polizei? Miliz, sagt der Fahrer, und versteht. Wir holpern mit letzter Kraft durch Schlaglöcher in eine Ansammlung von Häusern. Ein Schild weist aus: Polizeistation. Klingeln, klopfen, keiner öffnet. Der Morgen des 10. November 1989 dämmert herauf. Gegenüber der Polizei eine Vulkanisierwerkstatt. Wo Reifen sind, müsste auch Diesel sein. Wieder klingeln, wieder klopfen. Ein Mann kommt aus dem Bett. Danach haben wir Anspruch auf einen Eintrag im GuinessBuch der Rekorde: So teuer ist wohl noch nie eine Tankfüllung bezahlt worden.

Das Radio wird deutschsprachig. Mit Unterbrechung. Meldung und Berichte aus der vergangenen Nacht. Kohl wird aus Warschau abreisen. Du überlegst, wann hattest du das Empfinden, die Staatsmächtigen der DDR seien mit ihrem Latein am Ende? Dass sie darauf bestanden, die Flüchtlinge aus Prag und Warschau in eigenen Zügen durch die DDR in die Bundesrepublik zu schaffen. Hoheit sollte demonstriert werden, eine groteske Kapitulation war das Resultat. Der Fahrer bremst. Autos reihen sich hintereinander, kilometerlang. Wir sind an der Grenze von Polen zur DDR. Was nun? Raus aus dem Wagen, zu Fuß zum Schlagbaum. Die Warschauer Akkreditierung wird vorgezeigt, radebrechen, der Toyota darf auf die Überholspur, an den seit Stunden Wartenden vorbei. Auf der DDR-Seite ein seltsamer, weil ungewohnt freundlicher Empfang. Nun fährst du durch das Land, das du gut kennst, auf Strecken, die dir vertraut sind, und du schaust auf Städte, Dörfer, Wälder - es ist wie immer und es ist doch ganz anders.

In Dreilinden ist die Kontrolle ein freundschaftliches Gespräch. Das sei eine Nacht gewesen, mein lieber Scholli, sagt der Grenzoffizier. Zwischen dir und ihm scheint es keine Grenze mehr zu geben. Das war eine Nacht. Am Abend des 10. November 1989 läuft aus Berlin der ARD-Brennpunkt: "Durchbruch - Zukunft ohne Mauer". Westdeutsche Politiker und DDR-Bürger im Gespräch miteinander. Eine reformierte DDR, die soll es sein. Wenn jetzt die Diskussion über die deutsche Einheit beginne, dann wäre im Handumdrehen eine Eiszeit existent. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Der Generalsuperintendent der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Günter Krusche, sagt deshalb: "Ich wünsche Egon Krenz Erfolg." Der Spatz ist in der Hand, mit der Taube soll nicht liebäugelt werden. Auch Krusche ahnt nicht, dass wir zu diesem Zeitpunkt über Operationen an einem Patienten sprechen, der bereits tot ist. Pfarrer Rainer Eppelmann, soeben hat er die Oppositionsbewegung "Demokratischer Aufbruch" aus der Taufe gehoben, ruft: "Es ist eine Lust zu leben!"Der Autor war 1989 Chefredakteur Fernsehen im Sender Freies Berlin. Heute ist er Gründungsdirektor des ARD-Haupstadtstudios. Übersichtsseite zum 10. Jahrestag des Mauerfalls

Der Autor war 1989 Chefredakteur Fernsehen im Send

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