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Berlin: Zwanglos verhüllt

Tuba Sahin lebt nach dem Koran. Sie geht auf die Oberschule, Bildung ist ihr wichtig. Tuba kleidet sich westlich. Sie trägt Kopftuch. Ihre Schwester Ayten ist Bankkauffrau und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie trägt Kopftuch. Akzeptiert fühlen sich beide nicht

Es war der 3. September 2001, Tuba Sahin weiß es noch ganz genau, da hat sie zum ersten Mal das Kopftuch in der Schule getragen. Es war ihr erster Schultag an der Oberschule – ein Neuanfang. „Der richtige Zeitpunkt, mit dem Kopftuch anzufangen“, sagt die 16-Jährige. „Außerdem kannte mich an der neuen Schule niemand.“ Tuba dachte, das Gerede wäre dann nicht so schlimm. „Natürlich haben mich dann doch viele angesprochen. Und in den ersten Tagen war es ungewohnt, etwas auf dem Kopf zu haben. Aber jetzt gehört es ganz zu mir.“ Tuba Sahin trägt das Kopftuch freiwillig. Sie sagt, ihre Eltern würden akzeptieren, wenn sie es ablegte. Aber daran denkt sie nicht. Ohne das Kopftuch, sagt sie, fühle sie sich „wie nackt“.

An diesem Freitag hat sie ein weiß-türkises Tuch kunstvoll geschlungen und auf die ebenfalls türkise, sportliche Jacke abgestimmt. Tuba ist ein schönes Mädchen, modisch gekleidet. Ohne das Kopftuch sähe sie aus wie ein Model aus einem Modekatalog: lange schwarze Hose, kurzer schwarzer Jeansrock darüber, schwarzes T-Shirt. Sie sitzt auf der Wohnzimmercouch bei ihren Eltern. Der Vater fingert an einem Handy und hört aufmerksam zu, auch wenn er nicht alles versteht. Obwohl es schon mehr als 30 Jahre her ist, dass die Eltern aus Anatolien nach Berlin gekommen sind, sprechen sie kaum Deutsch.

An den Wohnzimmerwänden hängen eine Prachtausgabe des Koran, gerahmte Koransuren und Fotos von der Hadsch, der Wallfahrt nach Mekka, die die Eltern vor neun Jahren mitgemacht haben. Die Mutter erzählt mit verzücktem Lächeln davon, wie sich beim Umrunden der Kaba Menschen aus so vielen Nationen an der Hand hielten und ganz von ihrem Glauben beseelt waren. Vielleicht so ähnlich wie jetzt auf dem Petersplatz in Rom.

Im Sessel sitzt Tubas 35-jährige Schwester Ayten Kaya, langer schwarzer Rock, türkiser Pulli, Kopftuch. Während sie die Wünsche ihrer sechs- und dreijährigen Söhne, mal nach einem Eis, dann nach einer Playstation lachend abwiegelt, erzählt sie davon, wie ihr eine Lehrerin an ihrem ersten Tag auf dem Gymnasium ins Gesicht geschlagen hat, weil sie ein Kopftuch auf hatte. „So was gibt’s an unsrer Schule nicht“, habe sie gesagt. „So was nannte sich Pädagogin“, schimpft Ayten. Sie hat Abitur gemacht und mehrere Jahre als Bankkauffrau gearbeitet, da musste sie das Kopftuch allerdings abnehmen. Vor 13 Jahren hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. „Würden Sie mich als Deutsche akzeptieren, wenn Sie mich mit Kopftuch auf der Straße sehen?“ Die Leute, erzählt Tuba, täten, als sei ein Zaun um sie, nur weil sie Kopftuch trage. „Wenn die doch wenigstens fragen würden, warum ich es trage.“ Denn das kann sie schnell beantworten: „Ich glaube an Gott.“ Ob Menschen an Allah glauben oder an einen anderen Gott, ist Tuba egal. „Aber man muss einen Glauben haben. Wenn man an etwas glaubt, dann richtet man sein Leben danach aus und lebt nicht ziellos vor sich hin.“ Tubas Ziel ist es, ein guter Mensch zu sein und sich an die Vorschriften zu halten. Im Koran stehe nun mal, dass die Frauen ihre Haare bedecken sollen.

Fünfmal am Tag zu beten, dazu kommt Tuba im Moment nicht. Sie ist in der zehnten Klasse, bald beginnen die Abschlussprüfungen. „Aber ich will wieder anfangen, weil ich mich nach dem Beten erleichtert fühle“, sagt sie. Gott ist sozusagen ihr Therapeut: „Ich kann alles mit ihm besprechen.“ Oft sei ihr danach klarer, welcher der richtige Weg ist.

Eines hassen Tuba und ihre Schwester Ayten wirklich: Irgendwie gehen alle davon aus, dass die Eltern sie zwingen, Kopftuch zu tragen. Zum Beispiel, wenn die Lehrerin anbietet, mit den Eltern zu sprechen, falls Tuba nicht zur Abschlussfeier kommen darf. „Warum sollte ich nicht kommen dürfen?“, fragt Tuba dann. „Das hat doch nichts mit Religion zu tun. Das sind Vorurteile, da wird alles vermischt.“

Ihre beste Freundin, eine Türkin, trägt kein Kopftuch. „Da denken alle, boah, die ist ganz liberal.“ Dabei sei ihre Freundin genauso religiös, trage keinen Minirock und gehe, wie sie, nicht schwimmen. „Muss denn jeder schwimmen? Reicht der Sportunterricht nicht?“, fragt Tuba. Sie will sich nicht im Badeanzug zeigen. Punkt.

Nach der Schule möchte Tuba auf das Oberstufenzentrum Sozialwesen wechseln und wie ihre drei Schwestern und ihr Bruder eine Ausbildung machen. „Natürlich gibt es Familien, die nehmen ihre Töchter aus der Schule, weil sie Angst haben, sie werden verdorben. Aber in unserer Familie ist Bildung wichtig.“

Bildung heiße nicht, alles Westliche zu übernehmen. Zum Beispiel hält Tuba nicht viel von sexueller Freizügigkeit. Dass sie als Jungfrau in die Ehe gehen soll, ist für sie kein Zwang, sondern etwas Selbstverständliches, das sie selbst will. Als Heiratskandidat kann sie sich nur einen Muslim vorstellen. „Ein Christ würde in so vielen Dingen anders denken.“ „Die Unterschiede zwischen zwei Menschen sind auch so schon groß genug“, pflichtet ihre Schwester bei. „Da sollte man doch erst mal in der eigenen Religion suchen, sonst wird es noch komplizierter.“ Und noch eines stellt sie klar: „Die Familie ist zwar heilig, aber wenn es gar nicht geht, spricht nichts dagegen, dass sich auch Frauen scheiden lassen. Wenn irgend so ein Idiot seine Schwester oder Frau umbringt, hat das gar nichts mit dem Islam zu tun.“

Ob ihre Eltern schon einen Cousin für Tuba ausgesucht haben? „So was gibt es bei uns nicht. Ich suche meinen Mann selbst aus“, sagt die.

Während sich die Schwägerin fürs Foto ein schöneres Kopftuch umbindet, zeigt Tuba ihr Zimmer. Im Kleiderschrank hängen 30 Kopftücher: bunte, einfarbige, seidene, wollene, für jede Jahreszeit und Kleidung. Am Computer läuft das Siedler-Spiel. Daneben steht ein Foto von einem türkischen Popstar. „Sieht der nicht super aus“, schwärmt Tuba. Das sind für sie die eigentlich spannenden Themen. Nicht das Kopftuch.

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