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Berlin: Zwangsehen sind keine Privatsache

Die Soziologin Necla Kelek fordert, aufgeklärte Migranten sollten sich gegen eine ungesetzliche Tradition wehren

Frau Kelek, Ihnen wird in türkischen Zeitungen wie der Hürriyet vorgeworfen, Sie würden die Situation zwangsverheirateter Frauen in Deutschland dramatisieren. Was sagen Sie dazu?

Dieser Vorwurf ist haltlos. Es gibt diese Probleme in der türkischen Community. Zu behaupten, es gebe keine Probleme mit der Zwangsverheiratung, beweist doch, dass es bei vielen Migranten kein Problembewusstsein gibt.

Gibt es in der Türkei die gleichen Probleme mit Zwangsehen wie in Deutschland?

Ja, natürlich. Diese Tradition ist nicht in der Migration erfunden worden. Sie wird hier nur weitergeführt, indem man diese traditionsbewussten Mädchen zur Eheschließung direkt aus dem Heimatdorf oder aus dem Familienkreis hierher holt. Dadurch wird diese Tradition auch an die Kinder, die in Deutschland aufwachsen, weitergegeben.

Warum kann die Zwangsverheiratung, die in Deutschland und auch in der Türkei unter Strafe steht, nur schwer verhindert werden?

Viele Migranten wollen die Tradition gar nicht durchbrechen. Ein Kind, das hier die Schule besucht, wird zwar mit westlichen Werten konfrontiert. Genau in der Ablösungsphase von zu Hause, also zwischen 16 und 23 Jahren, werden die jungen Frauen aber zwangsverheiratet. Dieser Ablösungsprozess wird bewusst von der Familie unterbrochen. Die traditionsbewussten Familien denken: Wenn wir den Emanzipationsprozess unserer Töchter nicht unterbinden, verlieren wir die Kinder an die deutsche Gesellschaft. Ein solcher Machtverlust über die Kinder geht mit einem Ansehensverlust in der eigenen Community einher.

Nehmen türkische Vereine oder Verbände Ihrer Meinung nach das Thema Zwangsverheiratung ernst?

Wenn sie es ernst genommen hätten, hätten sie es schon längst thematisiert. Zwangsverheiratungen werden nach wie vor fraglos hingenommen. Es ärgert mich, dass vor allem die gebildete Schicht von türkischen Migranten sich so gut wie nicht um Zwangsverheiratungen kümmert. Sie reden wie viele Deutsche: Das ist nicht unser Problem, sondern reine Privatsache.

Zwangsverheiratungen sind aber kein Tabuthema mehr. Heute spricht man darüber und denkt über härtere Strafen nach.

Ich sage nicht, dass alle Migranten dieses Thema negieren. Die Hälfte der hier lebenden Einwanderer hat ihren Weg in die westliche Moderne gefunden. Trotzdem wollen diejenigen keine soziale Verantwortung für jene tragen, die in der Parallelgesellschaft ihre Traditionen leben. Diese aufgeklärten Migranten dürfen wie die Deutschen beim Problem der Zwangsehen nicht wegsehen.

Politiker fordern türkische Religionsgemeinschaften auf, dass die Imame über Zwangsverheiratungen in den Moscheen sprechen sollen. Kann das ein Problembewusstsein stärken?

Unbedingt. Wenn Zwangsverheiratungen mit dem Islam nichts zu tun haben, und das wird ja in den Vereinen so propagiert, dann haben die Islamvereine sich dagegen auszusprechen. Gerade die Imame müssten den Gemeindemitgliedern sagen, dass Zwangsverheiratungen verboten sind.

Hätten wir Deutschen genauer auf dieses Problem schauen müssen? Waren wir bisher zu liberal, was Integration betrifft?

Es gab 40 Jahre lang keine Integration, sondern nur das Stichwort Multikulturalität. Es wurde von vielen Kulturen gesprochen, die bunt nebeneinander stehen. Dass aber in bestimmten Kulturen täglich Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsverheiratungen begangen werden, scheint viele nicht zu interessieren. Westliche Demokraten dürfen aber nicht einen Fußbreit von der Wahrung der Grundrechte abweichen. Und Migranten, die seit Generationen hier leben, müssen sich endlich für die westliche Gesellschaft entscheiden. Wenn ich mich mit diesem Land nicht identifiziere und keine gesellschaftliche Verantwortung trage, werde ich hier nie in der Gesellschaft ankommen.

Das Gespräch führte Sabine Beikler

Die Soziologin Necla Kelek (47) plädiert in ihrem Buch „Die fremde Braut“ dafür, nicht aus falscher Toleranz die Augen vor dem Phänomen der Zwangsehe zu verschließen.

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