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Berlin: Zwei Fälle binnen 24 Stunden: Polizei holt Kinder aus Familie

Nachwuchs spielte zwischen Schnaps, Schimmel und Müll Berlin hat ein Konzept gegen Vernachlässigung – nur umgesetzt ist es nicht

Verschimmelte Lebensmittel, überquellende Aschenbecher, offene Schnapsflaschen – und in der Mitte des ganzen Chaos spielen zwei Kinder, vier und sechs Jahre alt. Das ist das Bild, das sich der Polizei am Mittwoch bot, als sie zu einem Wohnhaus in Wedding gerufen wurde, wo sich zwei Mieter, darunter die 31-jährige Mutter der Kinder, lautstark auf dem Flur gestritten hatten. Der nächste Einsatz dieser Art folgte für die Polizei nur wenige Stunden später: Am Donnerstagmorgen musste sie dann ein einjähriges und ein dreijähriges Mädchen in Spandau dem Jugendamt übergeben. Auch diese Familie lebte in ihrer Wohnung zwischen Schimmel, Spinnweben und Fliegenfängern.

Es geschah nur einen Tag, nachdem der Kinderschutzbund öffentlich gewarnt hatte, dass der Schutz der Jüngsten in Berlin nicht „flächendeckend gewährleistet“ sei, weil es immer mehr Familien gebe, die nicht in der Lage seien, sich vernünftig um ihren Nachwuchs zu kümmern. Zwei extreme Fälle von Verwahrlosung im Dezember und ein weiterer am vorigen Montag hatten die Experten aufgerüttelt. Egal, ob Mitte, Marzahn, Spandau oder Wedding: Um die betroffenen Kinder kümmert sich jetzt zumindest vorübergehend der Staat, und die Polizei ermittelt gegen die Eltern wegen Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht.

Netzwerk Kinderschutz – so heißt das mehrere hundert Seiten zählende Konzept, das die Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern in Berlin zukünftig verhindern soll. Der Entwurf, den unter anderem mehrere Senatsverwaltungen, die Jugend- und Gesundheitsämter entwickelt haben, ist lange fertig – und liegt seitdem beim Rat der Bürgermeister. Im Senat und im Abgeordnetenhaus wartet man seit Wochen auf die Zustimmung der Bezirksämter, die das „Netzwerk Kinderschutz“ selbst mit ausgearbeitet hatten, sich dann aber nach den Wahlen zum Teil neu formieren mussten. Immerhin: Ein Unterausschuss hat das Thema jetzt für den 30. Januar auf die Tagungsordnung genommen. Es kann also noch dauern, bis das „Netzwerk Kinderschutz“ zu greifen beginnt. „Haben die Bezirksbürgermeister dem Konzept zugestimmt, muss erst noch das Abgeordnetenhaus den Entwurf beraten“, sagt Kenneth Frisse, Sprecher der Jugendverwaltung. Zumal für einige Neuerungen voraussichtlich auch Gesetze geändert werden müssten.

Die Idee zum „Netzwerk Kinderschutz“ kam auf, nachdem im Dezember 2005 in Berlin mehrere Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung Aufsehen verursacht hatten. Das neue Konzept sieht ein Frühwarnsystem bei Kindesgefährdung vor. Kernpunkt ist die Vernetzung von Polizei, Jugendämtern, Krankenhäusern, Hebammen und Kinderärzten. Zudem will der Senat eine Rufnummer einrichten, unter der sich besorgte Nachbarn oder Verwandte rund um die Uhr Rat holen können. Die „Hotline Kinderschutz“ soll beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg eingerichtet werden. Außerdem sollen Eltern zukünftig schon vor der Geburt eines Kindes unterstützt und begleitet werden. Um Schlimmes zu verhindern, werden belastete Eltern gezielt von den Familienhelfern Besuch bekommen – bislang Zukunftsmusik. Als Indikatoren für eine Hochrisiko-Familie gelten: Armut, frühes Gebäralter, Gewalt in der Partnerschaft, Kinderreichtum, Drogenmissbrauch und ungünstige Wohnverhältnisse. Um das Melde- und Informationssystem zu verbessern, werden in den Bezirken „Kinderschutzkoordinatoren“ installiert.

Eine zweite Chance und Hilfe von amtlicher Seite soll jetzt auch die 31-jährige Mutter aus Wedding erhalten. „Sie zeigt sich sehr kooperativ“, sagt Jugendamtsleiter Dietmar Schmidt. Seine Behörde hatte sich bis August 2006 um die Familie gekümmert, sich aber zurückgezogen, nachdem die Verhältnisse stabilisiert schienen. Auch aus der Schule des sechsjährigen Sohnes habe es keine Hinweise auf einen Rückfall gegeben, sagt Schmidt. „Unser Ziel ist es, Mutter und Kinder bald wieder zusammenzuführen.“

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