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Berlin: Zwei Freundinnen verloren sich aus den Augen und feierten 1989 ein Wiedersehen

Lebenswende Mauerfall - unter diesem Motto hat das ARD-Fernseh-Magazin "Kontraste" gemeinsam mit dem Tagespiegel und dem Info-Radio Berlin Brandenburg Menschen gesucht, für die sich vor zehn Jahren in einer einzigen Novembernacht das ganze Leben änderte. Viele Berliner haben uns ihre Erlebnisse geschildert.

Lebenswende Mauerfall - unter diesem Motto hat das ARD-Fernseh-Magazin "Kontraste" gemeinsam mit dem Tagespiegel und dem Info-Radio Berlin Brandenburg Menschen gesucht, für die sich vor zehn Jahren in einer einzigen Novembernacht das ganze Leben änderte. Viele Berliner haben uns ihre Erlebnisse geschildert. "Kontraste"-Reporter haben einige von ihnen besucht. Daraus ist eine sechsteilige Fernsehserie für den SFB entstanden. Die Autoren der Filme haben die Geschichten für den Tagesspiegel aufgeschrieben.

Elisabeth versucht sich bei Ilse unterzuhaken. Aber Ilse zieht den Arm zurück. Diese Nähe zwischen Freundinnen mag Ilse heute genauso wenig wie früher, als sie gemeinsam zur Schule gingen. Das war Anfang der fünziger Jahre. Damals lebten beide in Blankenfelde. Jeden Morgen fuhren sie mit der S-Bahn vom russischen in den amerikanischen Sektor der Stadt nach Lichtenrade. Zwei Mädchen aus dem Osten, die eine Schule im Westen besuchten, das gab es 1953 noch, obwohl es von den Behörden in Blankenfelde nicht gern gesehen wurde. "Man drohte meiner Mutter die Waisenrente zu entziehen, wenn sie mich nicht von der Schule nimmt", sagt Ilse Stehling. Aber sie bekam eine Sondergenehmigung, weil sie gerade ihr Abitur machte. So war es auch bei Elisabeth Lange. In der Klasse habe es keine Rolle gespielt, woher jemand kam. "Wir hatten alle zusammengeflickte Kleidung und wenig zu essen."

Nach dem Abitur verlieren sich die Schulfreundinnen aus den Augen. So nah und doch so fern - zwei Lebenswege in einer Stadt. Elisabeth Lange arbeitet nach dem Abitur bei einem Tierseucheninstitut auf einer Ostseeinsel. Dort verliebt sie sich. Ihr Freund will Medizin studieren, bekommt aber in der DDR keinen Studienplatz. Sie beschließen, nach West-Berlin zu flüchten. "Ich habe damals meine Sachen heimlich in den Westen gebracht." Unzählige S-Bahnfahrten, Elisabeth trägt stets ein Bündel voller Bücher oder Geschirr bei sich. Sie merkt, wie ihr ein paarmal jemand folgt und sie beobachtet. 1958 fährt sie die Strecke zum letzten Mal. Ihre Hände zittern, als sie sich von ihren Eltern und der Schwester verabschiedet. "Am Abend kam ich in West-Berlin an und habe nur noch geheult", erzählt sie.

Ihre Freundin Ilse Stehling bleibt im Osten. Sie hat eine Stelle im Außenhandel der DDR gefunden, weil sie Englisch und Französisch kann. Sprachen mochte sie schon immer, auch wenn sie später keine Zeit mehr dafür hat. Als ihre Tochter ein Jahr alt ist, stellen die Ärzte einen Gehirnschaden fest. Der einzige Rat: Sie solle ihrem Mutterinstinkt folgen, dann würde sie schon alles richtig machen. Ein medizinisches Buch, das ihr eine Freundin aus dem Westen schickt, kommt nie an. Der Zoll hat es einbehalten. "Ich kann das bis heute nicht verstehen", sagt sie. Erst nach der Wende wird diagnostiziert, dass ihr Kind autistisch ist.

Wenn Ilse vom 13. August 1961 erzählt, spricht sie langsam und leise über ihren Bruder. Er versuchte über die Grenze zu fliehen, wurde aber gefaßt und bekam neun Monate Gefängnis. Ilse mußte das verschweigen. Wer wie sie im Außenhandel der DDR arbeitete, dessen Familie hatte "auf Linie" sein. 1964 entschloß sich Ilses Mutter, bei einem Besuch in Hamburg einfach dort zu bleiben. Ilse erhält einen Eintrag in ihre Akte, wie sie Jahre später erfährt.

Die Familie durch die Mauer getrennt - auch Elisabeth mußte damit leben. Sie hatte Angst, dass sich die Familie fremd wird. Über den Rias schickt sie Grüße. Später, als sie nach Ost-Berlin reisen darf, erlebt sie demütigende Zollkontrollen. Am Übergang Heinrich-Heine-Straße hieß es einmal "nackt ausziehen". "Ich fühlte mich in meiner Menschenwürde verletzt", sagt Elisabeth heute. Während all dieser Jahre hören Ilse und Elisabeth kaum etwas voneinander. Eine Karte zu Weihnachten - mehr nicht. Ilse findet sich in der DDR mit den Verhältnissen ab und versucht, wie sie es nennt, "das Beste daraus zu machen". Elisabeth wird Hausfrau mit drei Kindern. Sie lebt für die Familie.

Ein paar Tage, nachdem die Mauer fällt, klingelt bei Ilse das Telefon. Es ist Elisabeth. Nach so langer Zeit. "Das ist ja alles Wahnsinn", freuen sich beide. An ihrem ersten freien Tag macht sich Ilse auf den Weg nach Neukölln. Sie will ihr altes Berlin neu entdecken. Und dann war noch die Sache mit den "Südfrüchten". Sie kauft fünf Kilo Orangen und schleppt sie durch die ganze Stadt. In der U-Bahn wundert sie sich, dass alle auf ihr riesiges Einkaufsnetz starren. Das ist ihr peinlich. Erst später wird ihr klar, warum: "Im Westen kaufen alle nur am Wohnort ein und nicht irgendwo unterwegs. Es gibt ja alles an jeder Ecke." Über mehr Unterschiede will sie nicht sprechen. Auch Elisabeth ärgert das Gerede von "der Mauer in den Köpfen". Das Menschliche und die gemeinsamen Interessen seien doch das Wichtigste. Wenn sie übereinander sprechen, dann bezeichnen sie sich heute als "beste" Freundinnen, egal ob Ilse das mit dem Unterhaken mag oder nicht.Der Film "Eine Freundschaft, die nie zerbrach" von Christine Thalmann und Caroline Walter läuft heute Abend um 22.15 Uhr auf B 1 (Internet: www.kontraste.de). Das Info-Radio sendet Geschichten zum 9. November wochentags um 7.50 Uhr und 9.50. Am Freitag im Tagesspiegel und auf B 1: "Die vergessenen Kinder".

Caroline Walter

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